Krist, Martin/Lichtblau, Albert, Nationalsozialismus in Wien

. Opfer . Täter . Gegner (= Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 8). StudienVerlag, Innsbruck 2017. 443 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Krist, Martin/Lichtblau, Albert, Nationalsozialismus in Wien. Opfer. Täter. Gegner (= Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 8). Studienverlag, Innsbruck 2017. 443 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit ihrem achten Band, dem „Nationalsozialismus in Wien“, liegt nunmehr die gehobene Jugendsachbuchreihe zum Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern nahezu vollständig vor; allein der Band für Niederösterreich steht noch aus. Wie vom Rezensenten bereits mehrmals dargestellt, folgen die einzelnen Bände dieser vom Verein _erinnern.at_ unter der Schirmherrschaft des österreichischen Bundesministeriums für Bildung (BMB) getragenen Publikation inhaltlich einer einheitlichen Grundstruktur, nach der die jeweiligen lokalen Verfasser die Spezifika des von ihnen behandelten Bundeslandes darstellen. Zur Gestaltung führen die Projektverantwortlichen, Werner Dreier und Horst Schreiber, in ihrem Vorwort aus: „Die Sachtexte im vorliegenden Buch vermitteln einen Überblick über die wesentlichen Themen zum Nationalsozialismus auf dem neuesten Stand der Forschung in einer gut verständlichen Sprache. […] [Der achte Band] wendet sich an ein jugendliches Lesepublikum wie auch an Erwachsene […]. Die einzelnen Kapitel sind durch Fragestellungen gegliedert, um das Lesen und Verstehen einfacher zu machen. Sie sind in sich geschlossen, müssen daher nicht der Reihenfolge nach gelesen werden; die Leserinnen und Leser können also je nach Interesse und Notwendigkeit quer ins Buch einsteigen. Die exemplarischen Kurzbiographien eröffnen persönliche Zugänge und erzählen Geschichten von einzelnen Leben, von Verfolgung, Verstrickung und Widersetzlichkeit, die nicht schwarz-weiß, sondern vielfach schattiert sind und deshalb die LeserInnen zur Positionierung herausfordern. Rund 400 Fotos und Abbildungen illustrieren den Text, ergänzen ihn aber auch und erzählen eigene Geschichten. Am Ende des Buches finden die Leserinnen und Leser ein umfangreiches Sach- und Personenlexikon“ (S. 13ff.). Martin Krist unterrichtet an einer Allgemeinbildenden Höheren Schule in Wien sowie Fachdidaktik Geschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Albert Lichtblau ist als Universitätsprofessor stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg.

 

Die Publikation handelt die programmatisch im Titel verankerte Trias Opfer-Täter-Gegner im Kontext der folgenden inhaltlichen Komplexe ab: Wien 1918-1938; NS-Machtübernahme: Begeisterung und Verfolgung; Aufbruchsstimmung und neue Zwänge; Jugend und Schule; Der NS-Terrorapparat; Verfolgung homosexuell orientierter Menschen; NS-Euthanasie: Tötung von psychisch Kranken, Behinderten, „Missliebigen“ und „Schwer Erziehbaren“; Der Völkermord an den Roma und Sinti; Der Völkermord an den Jüdinnen und Juden; KZ und Zwangsarbeit; Widerstand; Krieg und Heimatfront; Vom Ende der NS-Zeit bis zur Gegenwart. Ein zentrales Element der Darstellung bilden die den einzelnen Kapiteln jeweils abschließend zugeordneten, in Summe 48 „Menschengeschichten“, in denen die zunächst anhand der aufgeworfenen Fragen allgemein vermittelten Inhalte am Beispiel konkreter Biographien anschaulich erlebbar werden.

 

Wien als ehemalige, von Hitler wohl aus persönlich-biographischen und rassistischen Motiven wenig geschätzte Hauptstadt der Donaumonarchie zeichnete sich auch nach dem Zusammenbruch der Habsburgerherrschaft durch Multiethnizität aus. So lebten in Wien „mehr als 90 Prozent aller Juden und Jüdinnen Österreichs“ (S. 25), bei der Volkszählung 1934 bekennen sich über 176.000 Wiener zur israelitischen Religion. „Das Zusammenleben ist keineswegs harmonisch, regierten in Wien doch bereits von 1896 bis 1918 antisemitische, deutschnationale Bürgermeister“ (S. 27). Fast 300.000 Wiener sind zur Zeit dieser Volkszählung auf dem Gebiet der Tschechoslowakei geboren und bilden damit die größte Minderheit. Auch hier sei „das Zusammenleben von vielen Widerwärtigkeiten und eigenartigen Formen des Wiener Schmähs geprägt“ gewesen, es habe „eine Kultur der Abwertung von Zugewanderten, des sich Lustig-Machens über die anderen, die ärmer sind, die die Sprache nicht beherrschen und nicht verstanden werden“, vorgeherrscht. Der Druck der Mehrheitsgesellschaft habe vielfach das „Phänomen der Überanpassung“ gefördert: „Um Anerkennung in einer deutsch geprägten Umwelt buhlend, überbetonen viele ihre deutschnationale Gesinnung. ‚Was ist den Herren Stipany, Bolek, Sedlaczek, Busek, Krobot, Kaschka, Turek, Trepesch, Hora, Hryak, Matula, Ceremuga, Hawlitschek, Grzesicki, Kuna, Knotek, Walny, Abrahamsberg, Maurek, Luchesi, Stano, Bedra, Holuska, Jurda, Wanek, (…), Kusicka, Marschalek und Takacs gemeinsam? Sie alle haben bei den Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen vom 24. April 1932 für die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) kandidiert.‘ […] Die Realität steht quer zur nationalsozialistischen Phantasie von einer ‚reinen‘, ‚deutsch-arischen Herrenrasse‘“ (S. 24).

 

Ein solcher Konvertit zum Germanentum per Namensadaptierung ist auch der Abteilungsleiter der Exekutive der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Wien, Othmar Trnka (1905 – 1986), über dessen Karriere im Dienst des Nationalsozialismus eine der „Menschengeschichten“ berichtet. Von seinem in Böhmen geborenen Vater und seiner Wiener Mutter (Mädchenname Tresky) stramm deutschnational erzogen, studiert er an der Universität Wien Rechts- und Staatswissenschaften und wird 1929 promoviert. Bereits 1926 organisiert er als Vorsitzender der „Deutschen Studentenschaft“ eine „antisemitische Demonstration gegen Universitätsprofessor Dr. Josef Hupka, den Dekan der Juridischen Fakultät“. Als Mitglied der NSDAP und der SS wird er 1938 zur Gestapo überstellt, wo er vom Sachbearbeiter bis zum Abteilungsleiter (1944) aufsteigt. Dort, wo mit Karl Ebner (1901 – 1983) ein weiterer, 1928 an der Universität Wien promovierter Jurist de facto die Geschäfte führt (vgl. S. 158ff.), hat er nicht nur „maßgeblichen Anteil an der Zerschlagung der linksorientierten tschechischen Widerstandsgruppen und der ersten zwei zentralen Parteileitungen der KPÖ, an den Foltermethoden bei den Verhören und der Hinrichtung von WiderstandskämpferInnen. Wegen dieser ‚Erfolge‘ […] wird [er] Oberregierungsrat und ändert aus Karrieregründen seinen Familiennamen vom tschechischen ‚Trnka‘ ins deutsche ‚Trenker‘. Dies bringt ihm rückwirkend die Ernennung zum SS-Sturmbannführer, ein Jahr später zum SS-Obersturmbannführer ein“ (S. 328). Nach dem Krieg werden gegen Trnka/Trenker auf der Basis des Verbotsgesetzes und des Kriegsverbrechergesetzes zwei Volksgerichtsprozesse geführt, die schließlich im Oktober 1949 mit seiner Verurteilung zu fünf Jahren schwerem Kerker enden, doch bereits 1950 sei er wieder auf freiem Fuß gewesen, 1957 sei die Verurteilung aus dem Strafregister getilgt worden. Zwar nicht mehr in den Polizeidienst aufgenommen und pensioniert, habe er sich bis zu seinem Ableben 1986 jedenfalls freuen dürfen, „dass ihm seine Jahre als Gestapobeamter voll für die Höhe seiner Pension angerechnet“ worden seien (S. 329). Ein anderer, prominenterer Exponent des nationalsozialistischen Systems mit deutschnationaler Prägung schon in der Jugend sah wiederum keine Notwendigkeit, durch eine explizite Germanisierung seines slawischen Namens seine Karriere voranzutreiben oder sein nationalsozialistisches Engagement glaubwürdiger darzustellen. Odilo Globocnik (1904 – 1945) bringt es nicht nur kurzzeitig zum Gauleiter von Wien (Mai 1938 bis Januar 1939), sondern wird später im besetzten Polen als SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin und Leiter der „Aktion Reinhard(t)“ zu einer Schlüsselfigur des Holocaust mit blutiger Berühmtheit (vgl. S. 89ff.). Einer seiner Komplizen in der Reihe der Vernichter ist der in Wien geborene Amon Göth (1908 – 1946), der 1946 nach einem Prozess in Polen hingerichtet wurde und durch Steven Spielbergs erfolgreichen Film „Schindlers Liste“ als unberechenbarer und brutaler Kommandant des Arbeits- und Konzentrationslagers Płaszów auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist (vgl. S. 56f.). Hermann Neubacher (1893 – 1960) als Wiener Bürgermeister von 1938 bis 1940 und Baldur von Schirach (1907 – 1974) als amtierender Wiener Gauleiter von 1940 bis 1945 tragen unter anderem Verantwortung für die Aktivierung und Umsetzung der judenfeindlichen Maßnahmen des NS-Regimes (vgl. S. 86ff. u. S. 116ff.).

 

Ausführlich beschäftigt sich der Band mit dem Schicksal der von den nationalsozialistischen Machthabern primär verfolgten und ausgebeuteten Gruppen, also Juden, Homosexuellen, „Euthanasie“-Opfern, „Zigeunern“ und Zwangsarbeitern. Hierbei vermitteln die zahlreichen Biographien die ganze Palette menschlichen wie abstoßend unmenschlichen Handelns; die Bandbreite der Verhaltensweisen reicht von der Ehefrau, die ihren jüdischen Ehemann (der daraufhin in Auschwitz ermordet wird) und (aller Wahrscheinlichkeit nach) auch die gemeinsamen Kinder denunziert (S. 165ff.: „Rosa Schandl: ‚Der Jud‘ muss weg!‘“), bis zu jenem SS-Untersturmführer und Meister der Schutzpolizei, der 1940 in Anbetracht der extrem tristen Zustände im Krakauer Ghetto beginnt, „die jüdische Bevölkerung […] als notleidende Menschen wahrzunehmen“, in der Folge vielen hilft und 1944 nach einer Verurteilung durch das SS- und Polizeigericht wegen „Kriegsverrates in Tateinheit mit Fahnenflucht im Felde und versuchter Urkundenfälschung sowie wegen militärischen Ungehorsams“ zum Tode verurteilt und im Lager Groß-Rosen hingerichtet wird (S. 322f.: „Oswald Bouska: SS-Mann und Retter jüdischer Kinder“). Die von einem Arzt denunzierte, daraufhin im Oktober 1942 wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat“ vom Volksgerichtshof Wien verurteilte und im März 1943 exekutierte, als Helene Kafka geborene Franziskanerin Maria Restituta (1894 – 1943) hatte sich als Operationsschwester im Krankenhaus Mödling für das Christentum und Österreich und gegen den Nationalsozialismus engagiert; sie sei „die einzige Ordensschwester, die der NS-Terrorstaat zum Tode verurteilt und hin[ge]richtet“ habe, und 1998 in Wien vom Papst „als erste Märtyrerin der Erzdiözese Wien seliggesprochen“ worden (S. 331).

 

Themen der Rechtssphäre berührt der Band nicht allein im Kontext solcher Urteile, sondern in mannigfacher Weise. Selbstverständlich wird ausgeführt, welche Rechtsgrundlagen das Vorgehen gegen die inkriminierten Opfergruppen jeweils legitimierten. Die Rolle der Justiz im nationalsozialistischen Staat im Allgemeinen und der Wehrmachtsjustiz im Besonderen wird knapp erläutert, mit Oberfeldrichter Karl Everts (1905 – 1952), der sich einst selbst stolz als „kleine(n) Himmler von Wien“ bezeichnet hat (S. 161), ein besonders eifriger Spezialist für die Strafverfolgung von „Selbstverstümmlern“ vorgestellt, der ungeachtet seiner Vergangenheit ab 1951 wieder als Richter an Gerichten in Aachen verwendet wurde. Ein Abschnitt zur rechtlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Österreich verweist auf den österreichischen Opfermythos, die unbefriedigende Strafverfolgung insbesondere nach Auflösung der Volksgerichte 1955 und die ebenfalls wenig zufriedenstellende Restitutionspraxis „arisierten“ Eigentums. Besonders aussagekräftig ist der Fall des umstrittenen Wiener „Euthanasie“-Arztes Heinrich Gross (1915 – 2005), der während der Herrschaft des Nationalsozialismus als Leiter der Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“ der Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ an Morden an Kindern beteiligt gewesen sei, was das Wiener Landesgericht 1981 in einem Urteil auch juristisch „eindeutig festgestellt“ habe. Dieser Spruch sei dennoch „ohne strafrechtliche Folgen“ geblieben, ein 1999 eingeleitetes Verfahren „wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten unterbrochen und nie fortgesetzt“ worden. Gross, dem man 1975 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verleiht (2003 wieder aberkannt), habe bereits bis 1978 als „ein prominenter und sehr gut bezahlter Gerichtsgutachter […] 12.000 Gutachten, sogar über Opfer, die überlebt haben, (erstellt)“, mit seinen Gutachten „1996 immer noch an die 31.000 Euro (verdient)“ und sei 2005 unbehelligt von der Justiz und hochbetagt verstorben (S. 211). Simon Wiesenthals (1908 – 2005) Biographie, insbesondere sein lebenslanges Bemühen um die Ermittlung und Strafverfolgung untergetauchter nationalsozialistischer Täter, aber auch die Anfeindungen, denen er sich nicht zuletzt längere Zeit von Seiten führender Vertreter der Sozialdemokratie (insbesondere durch Bruno Kreisky, bekanntlich selbst jüdischer Herkunft und Exilant, und Heinz Fischer) ausgesetzt sah, werden unter dem Motto „Recht nicht Rache“ beleuchtet (vgl. S. 390ff.). Grundsätzlich ist anzumerken, dass sich die Verfasser durchgehend um den Gegenwartsbezug bemühen, womit sie bestrebt sind deutlich zu machen, dass bestimmte diskriminierende Denkmuster mit dem Niedergang der nationalsozialistischen Herrschaft nicht automatisch verschwunden sind, sondern nicht selten in der unmittelbaren Gegenwart unverändert oder modifiziert weiter wirken. Wohl nicht zufällig sind daher die abschließenden Beiträge des Bandes die „Menschengeschichten“ über Christine Mjka, „Bezirksrätin mit ‚afroamerikanischer‘ Herkunft“ (S. 393f.), und über Ceija Stojka, Angehörige der Volksgruppe der Roma und Überlebende mehrerer Konzentrationslager, die auch nach der Hitler-Herrschaft für manche ihrer österreichischen Mitbürger „(i)mmer noch ‚dreckige Zigeunerin‘“ (Überschrift S. 395) war, was einige ihrer Nachkommen dazu bewege, aus Furcht vor zu erwartender Diskriminierung ihre ethnische Identität vorbeugend zu verschleiern.

 

Von den stadtplanerischen Visionen der Nationalsozialisten für Wien sei, bedingt vorwiegend durch den Krieg, wenig Bleibendes umgesetzt worden. Die bereits im Oktober 1938 verfügte Stadterweiterung zu „Groß-Wien“ hatte zwar die Eingemeindung von 97 umliegenden Gemeinden (darunter Mödling, Klosterneuburg und Schwechat), eine Vervierfachung des Stadtgebietes, eine Erweiterung auf 26 Bezirke und einen Zuwachs von 213.000 Menschen zur Folge. Nach 1945 verblieben davon jedoch nur 17 Gemeinden bei Wien. Der seinerzeit geplante Autobahnring um Wien sei „durch die A21 und die S1 heute teilweise verwirklicht“ (S. 84).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic