Wildt, Michael, Volk, Volksgemeinschaft, AfD
Wildt, Michael, Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 157 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der Begriff des Volks ist durch seine definitorische Unschärfe offen für politische Aufladung. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als sich demokratische Gesellschaften auf das Volk als Souverän berufen und eine Bezugnahme auf dessen angeblichen Willen stets einen legitimatorischen Anspruch zum Ausdruck bringt. Da Volk und Volksgemeinschaft aber „politisch, kulturell und sozial definierte Gemeinschaften (sind), bei denen stets um die Zugehörigkeit, um Inklusion und Exklusion, gekämpft wurde“, sei das Volk ebenso „ein Leviathan, das keineswegs per se gut, vernünftig und friedlich ist“. Deshalb, so das Credo des vorliegenden Essays, der sich als eine „historisch-politische Intervention“ versteht, sei es besser, sich im Angesicht einer zunehmend globalisierten Welt von dem Begriff zu trennen. An seiner Stelle sollten künftig „Menschen, die das Recht haben, Rechte zu haben, in den Mittelpunkt des politischen Denkens“ treten (S. 13). Es komme darauf an, „dass wir das alte Volkskostüm ablegen, die heroische Bühne verlassen und uns als Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Freiheit verstehen, die dabei sind, in Deutschland, in Europa und anderswo ihre politischen und sozialen Beziehungen neu zu regeln“ (S. 143).
Bekannter Weise ist die repräsentative Demokratie in Europa in den letzten Jahrzehnten vielfach von zumeist rechtsgerichteten Bewegungen herausgefordert worden, die wegen ihrer exklusiven Reklamation des Volkswillens, dessen Sprachrohr sie zu sein behaupten, unter dem Sammelbegriff des Populismus firmieren. Der Band nennt als Beispiele die Parteien von Umberto Bossi, Geert Wilders, Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache und vergleichbare politische Bewegungen in Skandinavien. Der „Alternative für Deutschland“ (AfD) widmet sich der Verfasser ausführlicher. Er untersucht verschiedene programmatische Aussagen des AfD-Grundsatzprogramms und von Exponenten wie André Poggenburg, AfD-Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt, oder der AfD-Bundesvorsitzenden Frauke Petry und kommt zum Schluss, die AfD habe „erkannt, dass in der Rede vom Volk, auch erweitert zur Volksgemeinschaft, eine wirkmächtige politische Kraft steckt, weil sie mit dem Satz ‚Wir sind das Volk‘ an alle appellieren kann, die sich von der herrschenden Politik unbeachtet, abgehängt oder gar missachtet fühlen und nun mit dem Hinweis auf das ‚Volk‘, das doch der Souverän jeder Demokratie sei, eine Aufwertung erfahren, die im normalen Politikbetrieb der Republik kaum noch existiert“. Mit ihrem Verständnis und ihrer Gebrauchsweise des Begriffs „Volk“ mache diese Bewegung deutlich, dass es ihr „vor allem um Exklusion geht, um die Definition derer, die nicht zum ‚Volk‘ dazugehören sollen“. In Anspielung auf die maßgebliche Richtschnur nationalsozialistischen Rechts ist ferner zu lesen, die AfD, die sich selbst als „Partei des gesunden Menschenverstandes“ bezeichne, sei „nicht weit entfernt davon, eine ‚Partei des gesunden Volksempfindens‘ zu werden“ (S. 118ff.).
Allerdings, das betont der Verfasser, würde man es sich zu einfach machen, würde man „dem ‚wahren‘ Volk der Populisten das ‚wahre‘ Volk der liberalen Demokratie entgegensetzen. […] Das politische Volk stimmt und stimmte nie mit dem sozialen Volk, der Gesellschaft, überein. […] Die Zugehörigkeit zum Volk war stets umkämpft, und daher besteht kein Grund zu selbstgefälliger Überheblichkeit, wenn Populisten heute erneut die Frage, wer das Volk sei, wer dazugehören dürfe und wer nicht, auf die politische Tagesordnung setzen“ (S. 122ff.). Notwendig sei daher die historische Durchleuchtung der Begrifflichkeiten und ihrer jeweiligen Inhalte, aus der sich wiederum die Forderung nach einer „Gesellschaft der Singularitäten auf der Basis gleicher Rechte“ als heute vertretbare und sinnvolle Auslegung des Volksbegriffs ergebe.
Michael Wildts Streifzug durch die Geschichte führt über das klassische Griechenland, Rom, das Judentum und das Christentum in die Zeit des Absolutismus, wo Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau Theorien zum Gesellschaftsvertrag entwickelten. Besondere Bedeutung erlangte Rousseaus Verknüpfung von Volk und Souveränität: „Für Rousseau konnte die Souveränität des Volkes nicht veräußert oder durch eine Vertretung wie das Parlament repräsentiert werden. Volk existierte nur in dem Moment der Versammlung und in seinem allgemeinen Willen, der volonté générale“. Die Wirkungsgeschichte dieses Gedankens sei erheblich gewesen, denn „(v)on Rousseau aus entstehen in der Moderne sowohl die Konzeptionen der Homogenität und Identität des Volkes als auch die Versuchung, dass Gruppen, ob Wohlfahrtsausschuss oder Zentralkomitee, oder Einzelne, ob Volkstribun oder Diktator, für sich in Anspruch nehmen, die volonté générale des Volkes zu exekutieren“ (S. 25f.). Die bis heute andauernde Debatte um die adäquate Herrschaftsform des Volkes fand ihren Ausdruck unter anderem 1787 in den gegensätzlichen Positionen beim Ringen um die Verfassung der Vereinigten Staaten. „Während die Federalists die Gefahr einer emotionalisierten, eigennützigen und Minderheiten drangsalierenden Mehrheitspolitik nüchtern sahen und mittels Repräsentation und Gewaltenteilung zwar an der Volkssouveränität festhielten, aber dem Volk gewissermaßen die Herrschaft entwinden wollten, beharrten die Anti-Federalists auf dem Grundsatz der Partizipation und Selbstregierung als Kernelemente von Demokratie“ (S. 30). Nicht übersehen werden dürfe allerdings, dass für beide Gruppen das Volk ausschließlich „aus weißen, besitzenden, Steuern zahlenden, männlichen Bürgern bestand“ (S. 30f.), und auch Immanuel Kant, der „Volk und Staat vom Recht her dachte“, schloss Frauen und Minderbemittelte aus seinem Begriff des Staatsbürgers aus. Die große Sprengkraft der Idee der Volkssouveränität liegt bis heute in ihrem latent revolutionären Potential: Zwar geben „Recht und Gesetz Regeln vor, in denen das Volk seine Macht ausübt. […] Doch […] (w)enn alle Gewalt vom Volke ausgeht, wenn der Volkswille die Verfassung begründet, dann kann sich, wenn das Volk es will, auch die Verfassung ändern“ (S. 38f.). Mit der Ethnisierung des Volksbegriffs durch Johann Gottfried Herder sei ein zusätzliches Element mit erheblicher Sprengkraft virulent geworden. Der Grundsatz, dass jede Nation einen Staat bilde, habe nicht nur das Schicksal der drei großen multinationalen Imperien Russland, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich besiegelt, sondern nach biologistischer Aufladung auch „mörderische Politiken der Segregation und Ausmerzung“ initiiert (S. 47), Letzteres ein Zusammenhang, den als Erster Michel Foucault offengelegt habe.
Auch der Begriff der Volksgemeinschaft hat seine spezifische Geschichte. Als „Geist von 1914“ stand Volksgemeinschaft im Ersten Weltkrieg für Einheit und Geschlossenheit der Deutschen gegenüber dem äußeren Feind. In die Weimarer Verfassung flossen „unterschiedliche( ) Vorstellungen vom Volk ein, sowohl dessen angenommene ideelle Einheit als auch dessen tatsächliche Heterogenität“ (S. 55). Das Misstrauen gegenüber dem Repräsentativsystem war hoch, der vom Volk gewählte Reichspräsident wurde daher mit erheblichen Befugnissen ausgestattet. Während die Demokraten noch versuchten, „mit dem Begriff der Volksgemeinschaft die verfassungsloyalen Kräfte zu sammeln“, arbeiteten die Nationalsozialisten bereits mit ihrer von Carl Schmitt theoretisch fundierten und von Ernst Fraenkel kritisch analysierten, strikt exklusiven Auslegung des Begriffs. „Gemeinschaft“ sei in jener Zeit der Krisen generell „ein mächtiges soziales Versprechen“ gewesen; „überall in Europa wurde mit der Kritik am Liberalismus, an der Kälte der kapitalistischen Ordnung, der Zerstörung solidarischer Sozialbeziehungen die Verheißung, Gesellschaft als Gemeinschaft zu organisieren, attraktiv“ (S. 74). Die „nationalsozialistische Vergemeinschaftung“ sollte schließlich durch „die Gewalttätigkeit der Ausgrenzung und die Irreversibilität der Zugehörigkeitskriterien“ ihre besondere Prägung erhalten. Als nunmehr positiv konnotierte „Chiffre für das Zusammenstehen und Helfen in der Not“ überdauerte der Volksgemeinschaftsbegriff auch das Kriegsende 1945 und kehre – so der Verfasser – wenig überraschend wieder zurück, „wenn sowohl entfremdende Globalisierung, Vereinzelung, Verlust an Heimat und Solidarität kritisiert als auch Kriterien von Zugehörigkeit und Exklusion erneut politisch debattiert und ausgehandelt werden“ (S. 90). Exponenten der AfD, die eine vom Nationalsozialismus unabhängige Bedeutung des Begriffs reklamieren, seien mutmaßlich darauf aus, „völkisches Denken […] wieder salonfähig“ zu machen (S. 118), indem sie, die historischen Kausalzusammenhänge ignorierend, es darauf anlegten, dieses von seiner Verbindung zum Nationalsozialismus zu entkoppeln.
Ohne Zweifel sind die Entwicklungsstränge, die Michael Wildt, Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin, hier kundig darlegen kann, von aktueller Relevanz, indem sie zu einem besseren Verständnis der Debatte um den global boomenden politischen Populismus beitragen. Sie zeigen, dass sich in den populistischen Unmutsäußerungen gegenüber dem Repräsentativsystem Konflikte verdichten, die jenseits der Tagespolitik bisweilen jahrhundertelange historische Traditionslinien aufweisen. Dass die repräsentative Demokratie elastisch der Stimme des Volkes Raum zu geben vermag, ohne den Rechtsstaat preiszugeben, demonstriere im Übrigen das Beispiel des Bahnhofsausbaus in Stuttgart („Stuttgart 21“). Dieses Projekt, das „ordnungsgemäß alle rechtsstaatlichen Verfahren“ durchlief und wegen des anhaltenden massiven Widerstandes im Volk nur als „ein demokratisches Experiment, das außerhalb der verfassungsmäßigen demokratischen Verfahren stattfand, zur Deeskalation und Integration der ‚Wutbürger‘“, zum Erfolg geführt werden konnte, lasse erkennen, wie es praktikabel sei, dass „der alte Gegensatz von Staat und Gesellschaft, vom politischen und sozialen Volk […] zugunsten einer komplexen Beziehung neu bestimmt“ werde (S. 137f.).
Kapfenberg Werner Augustinovic