Eichmüller, Andreas, Die SS in der Bundesrepublik.
Die Transformation einer Diktatur in ein demokratisches Staatswesen stellt jede Gesellschaft vor erhebliche Herausforderungen. Wenn auch belastete Institutionen und Organisationen aufgelöst und verboten werden, so bestehen doch die Individuen, die in ihnen dienten, und mit diesen auch das dort einst gepflegte Gedankengut informell fort und bilden ein unberechenbares und kritisch beobachtetes Potenzial. Unter diesem Aspekt ist insbesondere die Geschichte der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS) nicht nur bis 1945, sondern vor allem auch in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein lohnendes und interessantes Forschungsgebiet, gilt doch jene Gliederung nicht zuletzt nach dem Urteil von Nürnberg als Speerspitze der größten Übel, die dem Hitler-Regime anzulasten sind. Eine größere Anzahl wissenschaftlicher Publikationen hat sich bereits der Thematik angenommen, darunter der von Jan Erik Schulte und Michael Wildt herausgegebene Sammelband „Die SS nach 1945“ (2018), der den aktuellen Forschungsstand in den relevanten Diskursfeldern übersichtlich und facettenreich abbildet.
Andreas Eichmüllers in die renommierte Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin (IfZ) aufgenommene Studie analysiert die Nachkriegsgeschichte der SS bis 1985 im Spiegel der parlamentarischen und medialen Auseinandersetzungen, die seinerzeit um die „Ehemaligen“ geführt wurden und in einem sich verändernden gesellschaftlichen Umfeld den allmählichen Einstellungswandel in der Bundesrepublik Deutschland initiierten und begleiteten. Als seine Hauptquellen nennt der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am NS-Dokumentationszentrum München tätige und sich in der Vergangenheit mit der historischen Einordnung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen beschäftigende Verfasser „große, thematisch erschlossene oder personenbezogene Pressesammlungen“ aus dem Institut für Zeitgeschichte, dem Bundespresseamt, dem Bundestag, der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Bundesarchiv Abteilung Militärarchiv, des Weiteren die „systematische Auswertung der Presse von Verbänden, von denen anzunehmen war, dass sie besonders sensibel auf das Thema ‚SS‘ reagierten“ (Publikationsorgane der organisierten Veteranen der Waffen-SS, mehrerer NS-Verfolgtenorganisationen und des Zentralrats der Juden in Deutschland), ferner „die zwei meinungsführenden Wochenzeitungen Der Spiegel und Die Zeit sowie zwei große Tageszeitungen, die überregional ausgerichtete Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und das vor allem regional gelesene Hamburger Abendblatt“ (S. 10f.). Bei der Durchsicht werde deutlich, dass im gesamten Untersuchungszeitraum die SS in den Medien „immer, jedoch nicht immer in derselben Intensität präsent“ gewesen sei. Somit ließen sich „mehrere Debattenschwerpunkte erkennen, aus denen drei Untersuchungsfelder gebildet wurden“ (S. 13).
Diese drei Untersuchungsfelder geben den strukturellen Rahmen der vorliegenden Arbeit vor. Nach einer orientierenden Einführung stellt der Prolog zunächst knapp die Rolle der SS dar, beginnend im Dritten Reich und reichend bis in die frühen 1950er-Jahre (qualitative und quantitative Entwicklung der Struktur des SS-Apparates im Nationalsozialismus, Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg mit der Erklärung zur „verbrecherischen Organisation“, Entnazifizierung, Reorganisation ehemaliger SS-Angehöriger). Der erste thematische Block beschäftigt sich anschließend mit den Kontroversen um die gesetzlichen Regelungen zur beruflichen Wiedereingliederung und zur Versorgung, insbesondere mit der Beschäftigung von ehemaligen SS-Leuten in der Bundeswehr (1956) und der Aushandlung von Versorgungsleistungen für jene (1957 bis 1961). Das zweite Kapitel untersucht die Reaktionen und den Einstellungswandel in Bezug auf die starke öffentliche Präsenz (Treffen und Veranstaltungen) der im Rahmen ihrer bundesweit agierenden Interessensvereinigung „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) und verschiedener Veteranenverbände organisierten ehemaligen SS-Angehörigen. Gegenstand des dritten, abschließenden Abschnittes ist die Wahrnehmung und der Umgang mit der Skandalisierung der SS-Vergangenheit einzelner belasteter Persönlichkeiten der Politik und der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden (Landeskriminalämter, Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst).
Unabhängig von der Frage einer möglichen Periodisierung bestätigt Andreas Eichmüllers Studie im Kern die treibende Dynamik, die gerade dem Thema SS im Kontext der Auseinandersetzung der bundesdeutschen Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit allgemein zufällt. Dem weit verbreiteten Wunsch nach Harmonie und einer möglichst unauffälligen Integration der „Ehemaligen“ in die demokratische Neuordnung standen immer wieder die Verbrechen entgegen, die mit der Institution und dem Namen der SS untrennbar verbunden sind. War das Nürnberger Verdikt zunächst das willkommene „Alibi einer Nation“ (so Gerald Reitlinger schon 1956) zur Entschuldung der Mehrheit der Deutschen, hätten gerade die organisierten SS-Veteranen mit dem Wohlwollen einflussreicher Stimmen in der SPD und bald auch der CDU in weiterer Folge die Separierung bestimmter SS-Formationen (vorwiegend der in der Bundesrepublik mit etwa 500.000 Mann vertretenen Waffen-SS) vom Schuldvorwurf und damit eine Relativierung und Revision des Nürnberger Urteils betrieben, letztlich erfolglos. Ehemaligen Soldaten der Waffen-SS wurde der Zugang zur Bundeswehr – nach anfangs positiven Signalen zur Nutzung dieses personellen Potenzials von Seiten einiger der sicherheitspolitischen Berater um Kanzler Konrad Adenauer – schließlich nur eingeschränkt gewährt: „Eine interne Prüfung des Verteidigungsministeriums kam 1960 zu dem Ergebnis, dass sich insgesamt 699 ehemalige SS-Angehörige im Dienst der Bundeswehr befanden. Im Jahr darauf errechnete man bei den Offizieren und Unteroffizieren einen Anteil von 0,5 Prozent ehemaliger Waffen-SS-Angehöriger“ (wovon immerhin einigen noch der Aufstieg in einen Generalsrang gelang) (S. 88). Die von jahrelanger Lobbyarbeit der HIAG begleiteten Bemühungen um die Gleichstellung von Wehrmacht und Waffen-SS in der Sozialgesetzgebung im Wege einer entsprechenden Novellierung des im April 1951 verabschiedeten Gesetzes zum Artikel 131 des Grundgesetzes, das die Wiederverwendung und Versorgung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, wozu die NSDAP und ihre Gliederungen nicht gerechnet wurden, regelte, scheiterten zwar aus innenpolitischen und vor allem aus außenpolitischen Rücksichten. Dennoch wurde materiell „die Versorgung der SS-Veteranen und der Hinterbliebenen von SS-Soldaten […] weitgehend der von früheren Wehrmachtssoldaten angeglichen – leise und versteckt auf dem Weg der Veränderung von Verwaltungsvorschriften, der Einführung von Härteklauseln oder getarnt in Gesetzen, ohne jegliche Erwähnung des Namens ‚Waffen-SS‘“ (S. 284). Die detaillierten Ausführungen des betreffenden Subkapitels (S. 89 – 129) zu diesem Sujet sind rechtsgeschichtlich betrachtet die ertragreichsten der gesamten Studie. Es blieben aber die Verbrechen in den Konzentrationslagern, thematisiert in medienwirksamen Prozessen (Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961, erster Auschwitz-Prozess 1965) und als Fernsehserie („Holocaust“ 1979), die nicht zuletzt auch dafür sorgten, „dass sich die Vorstellungen und das Bild von der SS ein ganzes Stück weit von der in der Realität recht heterogenen Organisation ‚SS‘ entkoppelte, ‚SS‘ zu einer Chiffre, zu einem Symbol für die schlimmsten Untaten der Menschheitsgeschichte wurde und der SS-Mann spätestens seit den 1980er Jahren nahezu prototypisch für den NS-Verbrecher steht“ (S. 289).
Eine solche Wahrnehmung prädestiniert die Zugehörigkeit zur SS vorzüglich als Angriffspunkt für die individuelle Skandalisierung, der Sozialwissenschaft zufolge nicht zuletzt ein „Instrument der Herrschaftskontrolle, das auf Missstände und auf Normverletzungen hinweist und es Gesellschaften ermöglicht, ihr Normensystem weiterzuentwickeln“, wobei es aber „sowohl die Ambivalenz gesellschaftlicher Normen als auch die interessengeleitete Dimension von Skandalen zu berücksichtigen“ gelte (S. 194). Noch Mitte der 1950er Jahre „(erregten) individuelle SS-Mitgliedschaften von Repräsentanten des Staates und der Parteien in den bundesdeutschen Medien […] kaum Aufsehen“, wie an dem Fall des Wohnbauministers Victor-Emmanuel Preusker gezeigt wird (S. 195). Es könne „wenig überraschen […], dass es schon eines ehemaligen Mitglieds der KZ-SS bedurfte, um die Öffentlichkeit bezüglich der SS-Vergangenheit so manches Parlamentariers aufzuschrecken“, denn 1958 war die CSU-Parteiführung durch massive Kritik genötigt, den früheren Wachmann des Konzentrationslagers Mauthausen Peter Prücklmayer zum Verzicht auf seine Landtagskandidatur zu bewegen (S. 201). Wie lange sich derartige Interventionen hinziehen und wie unterschiedlich Einschätzungen und Interessen auf lokaler und übergeordneter Ebene gelagert sein konnten, illustriert dann die sich von 1957 bis 1967 erstreckende, prominente Causa des ehemaligen Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) im Warthegau, des SS-Gruppenführers und Generalleutnants der Polizei und der Waffen-SS Heinz Reinefarth, eines akademisch ausgebildeten Juristen, dem unter anderem Verbrechen bei der Niederschlagung des Aufstandes der polnischen Heimatarmee in Warschau vorgeworfen wurden und der seit 1951 in Westerland auf Sylt als beliebter Bürgermeister im Amt war. Erst 1963 und nach justiziellen Ermittlungen gegen ihn „wählte der Stadtrat […] Reinefarth einstimmig ab. […] In den 1960er Jahren fanden die Buchstaben ‚SS‘ in den Presseberichten zum Fall Reinefarth ausschließlich plakative Verwendung, um die Belastung anzudeuten. Reinefarths SS-Karriere und die SS als Organisation an sich wurden […] kaum mehr einer näheren Betrachtung gewürdigt“ (S. 218f.). Infolge der Debatten um die zahlreichen früheren SS-Angehörigen in den bundesdeutschen Sicherheitsbehörden (die Spitze des Eisbergs bilden der Fall Theo Saevecke im Bundeskriminalamt sowie im Bundesnachrichtendienst die Affäre um den Doppelagenten Heinz Felfe) „kristallisierte sich […] ein relativ breiter, bis weit in die politische Mitte reichender Konsens heraus, dass zur Gewährleistung der Sicherheit der Bundesrepublik nicht ehemalige Gestapobeamte und SS-Führer eingesetzt werden dürften. […] Dabei wurden zwischen der früheren SS-Zugehörigkeit von Beamten und aktuellen Missständen Verbindungslinien gezogen. Letztlich führten diese Diskussionen […] zu einem Umdenken in der Personalpolitik und zu einer Entfernung zumindest der am schwersten belasteten Männer aus den betroffenen Ämtern“ (S. 288).
Während in den 1950er-Jahren SS-Veteranen „noch von vielen Politikern umworben und hofiert“ worden waren, sieht der Verfasser die Jahre 1981/1982 als entscheidende Zäsur, wo nun „ein wie auch immer geartetes positives Bekenntnis zur Waffen-SS für weite Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Gesellschaft nicht mehr tolerabel“ gewesen sei. Drei konkrete Vorgänge ständen für diesen Paradigmenwechsel: „Erstens der Beschluss der SPD, die gleichzeitige Mitgliedschaft in der Partei und der HIAG für unvereinbar zu erklären, zweitens der Erlass von Verteidigungsminister Apel, der dienstliche Kontakte von Bundeswehrangehörigen mit Nachfolgeorganisationen der Waffen-SS untersagte, und drittens die Entlassung des stellvertretenden Chefredakteurs des Bayerischen Fernsehens Franz Schönhuber“, dessen autobiographischem Werk „Ich war dabei“ (1981) von den Medien „Verherrlichung der Waffen-SS und Verharmlosung des Nationalsozialismus“ vorgeworfen worden war (S. 281). Die wissenschaftlichen Untersuchungen der folgenden fast vier Jahrzehnte haben erwartungsgemäß, so kann man ergänzen, nicht dazu beigetragen, die Wahrnehmung der Waffen-SS zu verbessern, im Gegenteil, sie haben sogar deren kolportierte soldatische Kompetenz erschüttert: Viel von ihrem einst legendären Ruf als militärische Elite wird nun bei näherem Hinsehen als Spätwirkung jener Propaganda identifiziert, die Heinrich Himmler geschickt um die Krieger seines Schwarzen Ordens inszenieren ließ, sodass heute auch nicht mehr von einer überlegenen militärischen Qualität der Waffen-SS in ihrer Gesamtheit ausgegangen wird. Für die öffentliche Wahrnehmung anderer Gruppierungen der historischen SS greift weiter die von Andreas Eichmüller konstatierte, bereits frühe pauschalierende „Tendenz zur Dämonisierung der SS“ (S. 292) vorzugsweise im Ausland, zuletzt beispielhaft und eindrucksvoll verkörpert in Literatur und Film durch psychisch defekte, sadistisch veranlagte Figuren wie den Ich-Erzähler Dr. iur. Maximilian Aue in Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ (2006) oder den von Christoph Waltz dargestellten SS-Standartenführer Hans Landa in Quentin Tarantinos Blockbuster „Inglourious Basterds“ (2009). Eine Ausweitung des Untersuchungszeitraumes bis in die unmittelbare Gegenwart wäre in Anbetracht geänderter Rahmenbedingungen (Wandel der Veteranenorganisationen, biologische Grenzen der Erlebnisgeneration) und möglicher neuer Fragen nicht ohne Reiz.
Kapfenberg Werner Augustinovic