Ausschuß für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung (1934-1944).

* Versorgungswerk und Gesundheitswerk des deutschen Volkes (1940-1942), hg. und mit einer Einleitung versehen v. Schubert, Werner (= Akademie für deutsches Recht 1933-1945. Protokolle der Ausschüsse 10). Lang, Frankfurt am Main 2000. XXXIV, 619 S. Besprochen von Eberhard Eichenhofer. ZRG GA 119 (2002)

EichenhoferAusschuss20010126 Nr. 10269 ZRG 119 (2002) 73

 

 

Ausschuß für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung (1934-1944). Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes (1940-1942), hg. und mit einer Einleitung versehen v. Schubert, Werner (= Akademie für Deutsches Recht 1933-1945. Protokolle der Ausschüsse 10). Lang, Frankfurt am Main 2000. XXXIV, 619 S.

 

Zwei Diktaturen überwand Deutschland im 20. Jahrhundert: jede von ihnen legitimierte sich sozialpolitisch. Die den Bürgern vorenthaltenen Freiheits- und Mitspracherechte sollten durch Sozialleistungen aufgewogen werden. Für die DDR-Diktatur war dieser Zusammenhang offenkundig. In der offiziösen Rhetorik dominierte das sozialpolitische Argument: Arbeitsplatzsicherheit und eine zureichende Gesundheitsversorgung seien für den Menschen von elementarerer Bedeutung als alle anderen Rechte. Auch der NS-Staat hatte ein positives Verhältnis zur Sozialpolitik. In dem Parteiprogramm der NSDAP fand sich die Forderung einer aller Staatsbürger umfassenden, durch Steuern finanzierten Alters- und Gesundheitssicherung - was ja auf nichts geringeres als den radikalen Umbau einer von der Beitragsfinanzierung geprägten Sozialversicherung von Arbeitern und Angestellten hinauslief.

Der anzuzeigende Band dokumentiert eindrucksvoll die Gutachten, Beratungen und Beschlüsse des bei der Akademie für Deutsches Recht errichteten Ausschusses für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung. Ferner wurden die zwischen 1940 und 1942 vorgelegten Pläne zum Aufbau einer Versorgungswerkes und eines Gesundheitswerkes des Deutschen Volkes dokumentiert. Diese Pläne setzen die Konzepte der Staatsbürgerversorgung in ein konkretes Paragraphenwerk um. Eindrucksvoll enthüllen die Protokolle der Sitzungen des Jahres 1934 die positive Grundeinstellung des Nationalsozialismus zur Sozialversicherung. Sie wird als Hinterlassenschaft Bismarcks und als Verwirklichung der Volksgemeinschaft gewürdigt. Ihre seit jeher bestehende - weil durch ihre bloße Existenz ausgelöste - Mißbrauchsanfälligkeit wird moralisierend kommentiert, d. h. als Ausprägung liberalistischen Denkens gebrandmarkt. Gleichzeitig wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß in der vom Gedanken der Gemeinschaft geprägten Welt des Nationalsozialismus jeglicher Mißbrauch überwunden werde.

Im weiteren Fortgang der Arbeit, beginnend ab dem Jahre 1935 rücken dann jedoch technische Fragen in den Mittelpunkt - namentlich die zu allen Zeiten stets aktuelle Frage nach der Finanzierung der Sozialleistungen. Desweiteren werden nun eingehend Beratungen zur Vereinheitlichung des Beitragseinzuges, der Verbesserung der Kontrolle der Beitragszahlung, Möglichkeiten einer Angleichung im Verwaltungsverfahren und Dienstrecht der Sozialleistungsträger angestellt. Ganz und gar verwaltungstechnisch-praktische Fragen dominieren die Diskussion. Weder die Entlassung sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich gebundener Bediensteter der Sozialversicherungsträger im Jahre 1933 noch die zunehmend rigorosere Ausgrenzung der Juden aus der Sozialversicherung in Folge der Nürnberger Gesetze finden irgendeinen Widerhall in den Beratungen. Die relativ geringfügigen Änderungen der Sozialversicherung am Ende der 1930er Jahre - namentlich die Einbeziehung der Handwerker in die Sozialversicherung oder die Neugestaltung der freiwilligen Versicherung sowie eine verbesserte Verzahnung von Entgeltfortzahlung bei Krankheit und Krankengeld - werden durch den Ausschuß zwar gedanklich begleitet, aber nicht substantiell vorangebracht. Durchweg enthüllt die Beratung einen affirmativen, technokratischen Diskurs. Er nimmt die Umsetzung der vorgegebenen Aufträge als primär technisches und nicht als politisches Problem wahr. Die gesamten Beratungen durchziehen Devotheit und Subalternität der Beteiligten wie ein roter Faden. Auch insoweit ist der Band ein wichtiges Zeugnis einer wissenschaftlich noch nicht hinreichend durchdrungenen Epoche der deutschen Rechtsgeschichte.

 

Jena                                                                                                   Eberhard Eichenhofer