Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das alte Reich,

* hg. v. Jörn, Nils/North, Michael (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 35). Böhlau, Köln 1999. VIII, 554 S. Besprochen von Albrecht Cordes. ZRG GA 119 (2002)

CordesDieintegration20010916 Nr. 10495 ZRG 119 (2002) 41

 

 

Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, hg. v. Jörn, Nils/North, Michael (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 35). Böhlau, Köln 1999. VIII, 554 S.

 

Wer seinen Standpunkt als den Rand eines Kreises versteht und von dort aus den Abstand zur Mitte misst, hat mit dieser Perspektive mindestens fünf Elemente seines Untersuchungsgegenstandes fixiert: Es gibt ein Innen und ein Außen, der Blick geht nach innen statt nach außen, zwischen innen und außen gibt es eine lineare Grenze, nämlich die Kreislinie, der eigene Standpunkt gilt dem Betrachter als peripher, und schließlich ist der Bezugspunkt nicht eine andere Randregion, sondern die Mitte. Keines dieser Definitionsmerkmale ist für den südlichen Ostseeraum, mit dem sich der hier zu besprechende Band beschäftigt, selbstverständlich. Aus der Sicht einer dänischen Verfassungsgeschichte sind Holstein, Hamburg und phasenweise auch Lübeck die südliche Randzone des Reichs, aus schwedischer Sicht die deutschen Erwerbungen von 1648 ebenfalls südliche Vorposten und im Falle von Vorpommern vor allem wichtige Elemente einer gesamtbaltischen Herrschaftssphäre. Die fraglichen Territorien sind, um im geometrischen Bild zu bleiben, viel eher eine Schnittmenge mehrerer Einflusssphären als nur eine Randzone von einer von ihnen. Für die Hansegeschichte handelt es sich ohnehin nicht um einen Randbereich, sondern um das Zentrum ihres Forschungsgebiets. Aus der Sicht der nachlassenden Integrationskraft des frühneuzeitlichen Reichs schließlich wäre es gut denkbar, statt des Zentrums die zur gleichen Zeit letztlich noch stärkeren zentrifugalen Kräften ausgesetzten Randregionen des Reichs, also die Niederlande, Elsass, Lothringen, Burgund und die Schweiz, in Bezug zu nehmen. Der Band, der die Ergebnisse eines gleichnamigen Forschungsprojekt der Volkswagenstiftung zusammenfasst, nimmt also von vornherein eine sehr spezifisch reichsdeutsche Perspektive ein. Die anderen denkbaren Sichtweisen sind allerdings durchaus präsent; vor allem der Untertitel von Olaf Mörkes wichtigem Beitrag „Holstein und Schwedisch-Pommern im Alten Reich. Integrationsmuster und politische Identitäten in Grenzregionen“ und Nils Jörns beide Aufsätze mit schwedischen Bezügen rufen sie ins Bewusstsein. Doch in erster Linie geht es um die Vermessung des Radius vom Ostseestrand nach Speyer, Wetzlar und Wien. Es ist kein überraschendes Ergebnis eines so deutlich vom Geist der deutschen Wiedervereinigung beseelten Projekts, dass unabhängig von den geographischen Fakten der Radius klein und die Integration entsprechend groß war. Diese Bemerkungen nehmen der Fragestellung des Projekts nichts von ihrer Relevanz, führen aber ganz zwanglos zu den möglichen Anschlussfragen. Wie steht es mit den kulturellen und sozialen, rechtlichen und ökonomischen Gemeinsamkeiten im Ostseeraum unter den sich verändernden großpolitischen Rahmenbedingungen? Wie nahmen die nördlichen und östlichen Nachbarn ihre deutschen (bzw. im Baltikum zu einem wesentlichen Teil deutsch geprägten) Neuerwerbungen wahr? Wie steht es mit dem Zugang zu den Reichsgerichten aus den westlichen und südwestlichen Territorien, die dabei waren, endgültig aus dem Reich auszuscheiden? Wie reagierte die Reichspublizistik auf die „Erbfeinde“ Frankreich und Schweden im Vergleich? Es ist ohne Frage ein Erfolg, wenn ein Forschungsprojekt mindestens ebenso viele Fragen aufwirft wie es beantwortet.

Im einzelnen: Außer dem genannten Beitrag Mörkes ist es vor allem Bernhard Diestelkamps Aufsatz, der den Untersuchungsrahmen überschreitet und zumindest kurz Livland und Preußen einbezieht, wenn er die Wege der einzelnen Territorien zu den Reichsgerichten, unterschieden nach den prozessualen Möglichkeiten, die dorthin führten, nachzeichnet. Eine wichtige Perspektive wird durch den Bezug zu dem gegenläufig zum Aufstieg der Reichsgerichte an Bedeutung verlierenden Lübecker Oberhof hinzugefügt.

Nils Jörn stellt seine enorme Kreativität in diesem Band unter Beweis; mehr als die Hälfte der Beiträge stammen aus seiner Feder. Das Kernstück des ganzen Bandes, fast eine Monographie in Aufsatzform, ist seine zusammen mit Tobias Freitag verfasste Analyse der Inanspruchnahme der beiden obersten Reichsgerichte bis 1806. Umfangreiche Archivarbeiten insbesondere auch in Wien liegen dieser Auswertung zugrunde. In den Fragestellungen und Auswertungsmethoden haben die Autoren sich trotz einzelner Bedenken an Ranieris Vorarbeiten orientiert, weil man nur so zu einem Vergleich mit seinen Ergebnissen gelangen konnte. Der Aufsatz ist allerdings etwas unübersichtlich und nicht immer sorgfältig redigiert. Nach hilfreichen allgemeinen Erläuterungen zum Erschließungsgrad der Akten, zur Forschungslage und zu den Zuständigkeiten von Reichskammergericht und Reichshofrat gehen die Autoren zu den eigenen Forschungen über und behandeln mit einigem statistischen Aufwand Prozessgegenstände, Geschäftsanfall, Stände und Gruppen, Prozesslänge und die Intensität des Austausches zwischen Ostseeraum und anderen Regionen des Reichs. Alles in allem finden Ranieris Ergebnisse Bestätigung; eine auffällige Besonderheit ist allerdings der größere Anteil von finanziellen und wirtschaftlichen Prozessgegenständen in vermeintlich so agrarisch geprägten Landschaften wie Pommern und Mecklenburg, während der im übrigen Reich bedeutende Komplex der Streitigkeiten über Jurisdiktion hier eine geringere Rolle spielt (S. 69).

Zu den strukturellen Analysen dieser Art gehört auch Jörns Übersicht über das oberste schwedische Tribunal in Wismar – mit gelegentlichen Wiederholungen aus dem vorgenannten Beitrag, aber ein Gegenstand, der auf den Fortgang von Jörns Forschungen gespannt macht – und seine Beobachtungen zu der überraschend bereitwilligen Entrichtung der Reichssteuern durch die nordöstlichen Territorien. Auf einen ganz anderen Gegenstand lässt Jörn sich mit drei biographischen Skizzen ein, nämlich zu den beiden von Dänemark bzw. Schweden präsentierten Wetzlarer Assessoren Johann von Ulmenstein und Christian von Nettelbla sowie dem lange Zeit erfolgreich als Lübecker und kaiserlicher Gesandter agierenden, dann aber kurz vor dem erhofften Sprung an den Reichshofrat doch noch gescheiterten Dietrich von Brömbsen. Martin Krieger zeigt, dass der Ostseeraum auch in den laufenden Geschäften des Reichstags durchaus eine Rolle spielte. Wolfgang Weber schließlich geht der Rolle des Ostseeraums in der Reichspublizistik im engeren Sinne und darüber hinaus in der allgemeineren politischen und auch in der geographisch-landeskundlichen Literatur nach und kommt hier anders als die Mitautoren doch zu dem gewohnten Bild einer eher geringen Bedeutung dieser Region im Bewusstsein der Zentren des Reichs. Dass die staatsrechtlichen Schriften eingangs mit einem gewissen theoretischen Aufwand als Teil der Kulturgeschichte definiert werden, überzeugt sicherlich, auch wenn die Konsequenzen aus dieser Etikettierung nicht deutlich werden. Der einleitende Überblick über den Band von Michael North bildet die Klammer um die verschiedenen Beiträge, die sich so bei aller Verschiedenheit der Gegenstände und Ansätze zu einer harmonischen Einheit zusammenfügen.

Der Sammelband präsentiert eine gelungene Synthese aus historischen und rechtshistorischen Fragestellungen, die nicht zuletzt in dem spezifisch rechtshistorischen Erscheinungsort zum Ausdruck kommt. Er hinterlässt den Leser mit dem paradoxen, aber angenehmen Gefühl, dass er über den anscheinend so abgelegenen südlichen Ostseeraum nun in einigen Hinsichten besser informiert ist als über manche Kernregionen des Alten Reichs.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Albrecht Cordes