Die juristische Aufarbeitung des Unrechtsstaats
BuschmannDiejuristische20000214 Nr. 1154 ZRG 118 (2001)
Die juristische Aufarbeitung des Unrechtsstaats, hg. v. d. Redaktion Kritische Justiz. Nomos, Baden-Baden 1998. 798 S.
Der vorliegende Sammelband enthält insgesamt 37 Beiträge, die zunächst in der Zeitschrift „Kritische Justiz“, namentlich in den Sonderheften „Der Unrechtsstaat“ ab 1979 erschienen sind und in diesem Band zum Teil in überarbeiteter Form erneut publiziert werden. Sie sind allesamt dem Problem staatlich erzeugten Unrechts und dessen Untersuchung gewidmet, wobei sich die Untersuchung nicht nur auf Gesetzgebung und Justiz konzentriert, sondern ebensosehr Rechtslehre und Wissenschaft miteinbezieht. Erstmals wird auch das Problem des DDR-Unrechts und der DDR-Staats- und Regierungskriminalität zum Gegenstand der Erörterung gemacht, nachdem die bisherigen Beiträge der „Kritischen Justiz“ nahezu ausschließlich den Nationalsozialismus und dessen juristische Aufarbeitung nach 1945 betrafen.
Die Beiträge des Bandes sind in insgesamt 4 Abschnitte gegliedert, denen noch ein Anhang mit einer vollständigen chronologischen Übersicht über die Veröffentlichungen zum Thema Nationalsozialismus in der „Kritischen Justiz“ seit 1968 – neben dem in solchen Sammelbänden üblichen Verzeichnis der Autoren – beigegeben ist.
Der erste Abschnitt enthält die Beiträge zur nationalsozialistischen Justiz und zur Rechtslehre des Nationalsozialismus, wobei die Themen der einzelnen Beiträge von unterschiedlicher Dimension, aber auch von unterschiedlichem Gewicht sind, ganz zu schweigen von den Unterschieden in der Substanz. Zunächst behandelt St. Höpel die sog. Säuberung der deutschen Rechtswissenschaft nach 1933, indem er den Versuch unternimmt, anstelle der in der bisherigen Literatur immer wieder begegnenden divergierenden Zahlenangaben genaue statistische, nach unterschiedlichen Kriterien ermittelte Angaben über den betroffenen Personenkreis zu gewinnen. Es folgt ein biographischer Beitrag von M. H. Wiegandt über Gerhard Leibholz und dessen Lebensschicksal vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus. M. Messerschmidt untersucht in seinem Beitrag die Rolle der Wissenschaft von der deutschen Rechtsgeschichte in der Zeit des Dritten Reiches und die Haltung führender Vertreter dieser Disziplin in der Zeit von 1933 bis 1945, leider mit im einzelnen nicht immer zutreffenden Einschätzungen. R. Hartmann befaßt sich in seinem Aufsatz mit der Krise der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung in den Jahren 1936 bis 1940 und den Bestrebungen einer rechtlichen Ordnung der Sozialbeziehungen in der Wirtschaft. Mit einem Beispiel nationalsozialistisch orientierter Auslegung beschäftigt sich H. Wrobel in seinem Beitrag, ähnlich wie R. Knieper, der sich in seiner allerdings sehr knappen Studie mit der nationalsozialistischen Umdeutung von bürgerlichrechtlichen Vertrags- und Gemeinschaftsverhältnissen auseinandersetzt. Chr. U. Schminck-Gustavus rezensiert in seinem Aufsatz das Buch von Güse und Schmacke über die Zwangssterilisierung in der Zeit von 1933 bis 1945 und St. Baier erörtert in seinem Beitrag die Causa Schwinge, die auch in der Tagespresse seinerzeit für Aufsehen sorgte. Einen Fall peinlicher Scharlatanerie in Sachen „Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus“ mit dem in Politik und Medien hochgejubelten Buchautor D. Güstrow alias D. Wilde schildert H. Rottleuthner, der mit seinen Darlegungen einmal mehr illustriert, mit welch fragwürdigen Existenzen man es bei der sogenannten Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus nicht selten zu tun hat. Ein lesenswerter Literaturbericht und eine Übersicht über Fernseh- und Kinofilme, die sich mit der Justiz der nationalsozialistischen Zeit beschäftigen, aus der Feder von H. Kramer beschließen den ersten Abschnitt des Sammelbandes.
Der zweite Abschnitt ist dem Thema der Fortwirkung des Nationalsozialismus in der Zeit nach 1945 gewidmet, wobei auch hier, wie schon im ersten Abschnitt, zumeist Studien zu einzelnen Gegenständen und Aspekten, nicht hingegen zusammenfassende Untersuchungen – vielleicht von einer Ausnahme abgesehen – abgedruckt sind. Diese Ausnahme betrifft den ersten der insgesamt 9 Beiträge, die dieser Abschnitt enthält, nämlich den Beitrag von J. Perels über die Restauration der Rechtslehre des Nationalsozialismus nach 1945, der im Anschluß an frühere Beiträge in der Zeitschrift „Kritische Justiz“ die These von der Kontinuität der Konstruktion des Rechtes in der Zeit des Nationalsozialismus auch nach 1945 wiederholt, der in der erwähnten Zeitschrift permanent vertreten wurde und wird. Im Anschluß an diesen Beitrag setzt sich Cl. Laage mit dem Problem des gesetzlich normierten Unrechts und dessen Behandlung nach 1945 sowie mit der justiziellen Verfolgung von Personen, denen der Vollzug gesetzlich normierten Unrechts zur Last gelegt wurde, auseinander. M. Walter befaßt sich in seiner Untersuchung mit der viel erörterten Frage, ob und inwieweit der Juristenstand in der Zeit von 1933 bis 1945 nach der bekannten Formel von Gustav Radbruch durch den Positivismus wehrlos geworden sei oder nicht – eine Frage, die von Walter glatt verneint wird. M. Stolleis erörtert in seinem Beitrag den seinerzeit viel diskutierten Fall des Staatsrechtlers Theodor Maunz und dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus sowie dessen Verhalten nach 1945, während G. Roellecke in dem nachfolgenden Beitrag die aus dem Fall Maunz sich ergebende Frage nach der Verantwortung des Öffentlichrechtlers untersucht, wobei dessen verschiedene Rollen als Beamter, Fachmann und Wissenschaftler differenziert betrachtet werden. Einem ähnlichen Thema ist auch der kurze Beitrag von G. Frankenberg gewidmet, der ebenfalls im Anschluß an den Fall Maunz die Erwartungen, die in bezug auf das Verhalten von Staatsrechtslehrern gehegt werden, diskutiert. H. Rink und M. Sudhoff untersuchen in ihrem Beitrag die zum 225-jährigen Jubiläum des Verlags C. H. Beck erschienene Festschrift, die mitunter zum Gegenstand giftiger Kritik gemacht wird. Einen kurzen Essay widmet J. Seifert Carl Schmitt, der inzwischen zu einem der am häufigsten analysierten und diskutierten deutschen Rechtsdenker der jüngsten Vergangenheit geworden ist – bezeichnenderweise auch von sozialistischer, insbesondere von linkssozialistischer Seite. H. Kramer zeichnet in seinem Aufsatz ein Lebensbild des Bundesverfassungsrichters und vormaligen Senatspräsidenten am Bundesgerichtshof Willi Geiger, das hier nicht näher kommentiert werden soll.
Im dritten Abschnitt sind jene Beiträge zusammengefaßt, die sich mit der sogenannten juristischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts durch die Justiz der Bundesrepublik nach 1945 beschäftigen. Hier untersucht zunächst S. Benzler die Strafverfolgung der an der „Euthanasieaktion“ beteiligten Personen, und zwar eingeteilt nach verschiedenen Zeitabschnitten, zunächst für die Zeit von 1946 bis 1949 und danach für den Zeitraum nach der richtungweisenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum sog. Verbotsirrtum, wobei die Autorin diese Rechtsprechung interessanterweise als Folgerung aus der subjektiven Teilnahmelehre darstellt. H. Kramer befaßt sich in seinem Aufsatz mit der justizförmigen Behandlung der „Euthanasieaktion“ und deren vor der Öffentlichkeit verheimlichten Beendigung. Der nachfolgende Beitrag von I. Müller untersucht die Problematik der Verwendung des Tatbestandes der Rechtsbeugung bei der Begehung von Justizverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus, namentlich am Beispiel des Falles Rehse, der mit dem bekannten Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1968 sein Ende fand. Mit einer ähnlichen Materie beschäftigen sich auch G. Denzel in seinem Beitrag über die Ermittlungsverfahren gegen die Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof, ferner G. Frankenberg mit seinem Bericht über die Große Anfrage der Grünen im deutschen Bundestag über das Vorgehen der deutschen Justiz bei der Verfolgung von nationalsozialistischem Unrecht und schließlich J. Perels mit der Frage der Aufhebung von Unrechtsurteilen gegen Angehörige des Widerstandes in der nationalsozialistischen Zeit. Nach einem kurzen Beitrag von P. Derleder über mangelnde Wiedergutmachung für Körperschäden als Folge nationalsozialistischen Unrechts findet sich eine umfangreiche Untersuchung von St. Wittke über die Verurteilungspraxis bei KZ-Verbrechen und hier insbesondere bei der Verurteilung von KZ-Tätern wegen Mordes und wegen Beihilfe zum Mord. Wichtigster Bestandteil dieser Untersuchung ist die statistische Erfassung der ergangenen Urteile, aus denen Wittke an Hand der ermittelten Zahlen einen Bonus für Akademiker bei der Verurteilung folgern zu können glaubt – eine fragwürdige Schlußfolgerung, bei der die individuellen Umstände der zur Verurteilung anstehenden Taten in der numerischen Masse der Daten untergehen bzw. durch diesen zugedeckt werden. F. Kruse beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit dem sogenannten Majdanek-Verfahren und den in diesem Verfahren gefällten Urteil, dessen Abgrenzungen von Täterschaft und Teilnahme in der Tat kritikwürdig erscheinen. H. Hannover behandelt in seinem Beitrag das bekannte Urteil des Landgerichts Krefeld vom Jahre 1986 im sogenannten Thälmann-Mord-Verfahren und dessen Aufhebung durch das Oberlandesgericht Düsseldorf. Beiträge von B. Nehmer über das Problem von Täterschaft und Teilnahme bei den von Einsatzgruppen begangenen Straftaten, von E. Rondholz über die Arbeit der Zentralstelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen und schließlich von J. Perels über das Problem der Amnestiegesetzgebung für Straftaten in der Zeit des Nationalsozialismus beschließen diesen Abschnitt des Sammelwerkes.
Ein letzter als Ausblick bezeichneter Abschnitt ist dem Thema des juristischen Umgangs mit der SED-Diktatur gewidmet. Im Mittelpunkt dieses Abschnittes steht zunächst die Debatte über die Amnestie für in der ehemaligen DDR begangene Straftaten, für die von H. Jäger, J. Perels und R. Knieper durchaus unterschiedliche Antworten gegeben werden, namentlich was den Bereich der sogenannten Staats- oder Regierungskriminalität betrifft. Am konsequentesten lehnt J. Perels jede Form der Amnestie für Straftaten innerhalb der ehemaligen DDR und für die von den damaligen Machthabern begangenen Straftaten ab – mit Recht, wie dem Rezensenten scheinen will, denn Unrecht bleibt Unrecht und muß gesühnt werden, gleichgültig unter welchem Herrschaftssystem und für welches Regierungssystem es begangen wurde. Dieser Grundsatz muß auch für das von der sozialistischen Justiz begangene Unrecht gelten, für die F. Werkentin die sogenannten Waldheimer Prozesse als besonders signifikantes Beispiel anführt. H. Blanke greift anschließend in seinem Beitrag noch einmal den Streit um die Amnestie für Staatsverbrechen in der ehemaligen DDR auf, während U. Homann die Prozesse wegen Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR untersucht und hierbei die restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die schon bei den Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte der nationalsozialistischen Zeit erkennbar geworden war, betrachtet und deren Folgen aufzeigt.
Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, sich mit den einzelnen Beiträgen dieses Sammelbandes eingehend auseinanderzusetzen, zumal Art und Anlage, aber auch, wie bereits betont, die Substanz der Beiträge sehr unterschiedlich beschaffen sind. Allenfalls wird ein Eingehen auf die gemeinsame Grundtendenz möglich sein, die für alle abgedruckten Beiträge, - übrigens auch für die Zeitschrift „Kritische Justiz“ -, maßgebend ist. Es ist das, wenn auch unterschiedlich artikulierte, Verlangen nach Aufdeckung, Verfolgung und Verurteilung von Unrecht, auch wenn dies gesetzlich normiert ist, dessen Kern die Autoren in der Verletzung elementarer Rechtsgrundsätze erblicken, ohne daß diese expressis verbis als Naturrechtssätze bezeichnet werden. Zwar werden gerade im Hinblick auf die jüngste deutsche Rechtsgeschichte durchaus Unterschiede gemacht, an deren legitimatorischem Hintergrund durchaus Zweifel angebracht sind, doch scheint diese Position der gemeinsame Nenner zu sein, auf die man die Grundhaltung aller Autoren dieses Sammelwerkes bringen kann. Im Vordergrund steht hierbei die Rolle des gesetzlich normierten Unrechtes und dessen justizförmiger Vollzug sowie das Verhalten der Juristen, aber auch die Frage der Beurteilung des Verhaltens der einzelnen Amtsträger durch Wissenschaft, Politik und Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945. Bei den vielen Aspekten, die bei einer Auseinandersetzung mit diesen Fragen relevant sind und von den einzelnen Autoren erörtert werden, scheint allerdings ein Aspekt außer Betracht gelassen worden zu sein, der insbesondere bei der Frage nach dem gesetzlichen normierten Unrecht im Mittelpunkt stehen müßte, nämlich die Frage nach der Verantwortung, - auch der strafrechtlichen Ver- antwortung - , derjenigen Personen, die für die Abfassung und die Beschlußfassung des gesetzlich normierten Unrechtes zuständig waren und daran mitgewirkt haben. Gemeint sind in erster Linie die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften oder jener Staatsorgane, die die gesetzlichen Maßnahmen beschlossen, verkündet und damit die eigentliche Grundlage für die begangenen Taten geschaffen haben. Von deren Verantwortung ist leider in keinem der abgedruckten Beiträge die Rede.
Salzburg Arno Buschmann