Karl May, Briefwechsel mit seinen „Kindern“. Erster Band 1896-1909, zweiter Band 1910-1912
Karl May – der selbst ernannte „Forscher und Psycholog“ in der kostbaren Korrespondenz mit seinen artig-unartigen „Adoptiv-Kindern“, Karl May, der Geschichten-Erzähler, der vom erfolgsverwöhnten Kolportageschreiber zum gefragten Jugendschriftsteller und überraschend genug seit 1892 blitzartig zum erfolgreichsten Bestseller-Autor mit vielbändigen Gesamtausgaben aufgestiegene Schriftsteller, war gleichermaßen ein ungemein fruchtbarer Briefe-Schreiber. Er fand die Möglichkeiten, ja suchte sie geradezu, seine Leser zu fesseln, sie an sich zu binden, erfreute sie lebenslang mit Ansichtskarten, mit Fotografien, mit 100 Antworten auf 1000 Fragen, erbat von ihnen Fotos für sein „Lesealbum“ und war überhaupt mit unverwechselbarem Sinn für Werk, Reputation und permanente Werbung ein für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert sehr „moderner“ Kommunikator.
Auch als „Star“ ließ er selten einen Brief unbeantwortet, selbst als er auf die massenweise Versendung gedruckter Grußkarten zurückgreifen musste. Nachhaltig war die Flut der Zuschriften, die selbst in Zeiten abnehmender Popularität selten abebbte.
Wenn seit Jahren unter der Leitung Lothar Schmids und nunmehr vor allem mit seinem literarisch versierten, großzügig alle Quellen offen legenden Sohn Bernhard Schmid der Bamberger Karl-May-Verlag neben den „Gesammelten Schriften“ und der „Historisch-Kritischen Ausgabe“ die hoch verdienstvolle Reihe der Editionen von Archivalien unermüdlich fortsetzt, dann gilt dies – nach so bedeutenden Ausgaben von Innenansichten und Außenansichten wie den Briefwechseln mit Verlegern wie Friedrich Ernst Fehsenfeld, Editoren wie Joseph Kürschner oder Künstlern wie Sascha Schneider – mit diesen zwei monumentalen Briefbänden nunmehr den privateren Binnensichten. Damit sind weit mehr als nur einzelne Funde oder kleinere Juwelen verbunden. Und vor allem vermag auch die Rechtsgeschichte davon zu profitieren.
Der Leser gewinnt profunde Einblicke in eine von 1896 bis 1912 gewandelte, von der Intimität bis zur neuen Außenstruktur reichenden Statur eines Mannes, dessen Werke jetzt primär pazifistisch, internationalistisch, von umfassenderer religiös-humaner Haltung geprägt nurmehr als symbolistisch konzipierte Romane auf den unaufhaltsamen Weg zu ewigen „Menschheitsfragen“, zum „neuen Menschen“, zur hehren Idealfigur des hochfliegenden „Edelmenschen“ gar sich begeben, jedoch im Strudel öffentlicher Angriffe unterzugehen drohen.
Die bisher nur in Teilausgaben bekannten privaten Briefwechsel, jetzt seltener in Karl Mays eigener Handschrift, vielmehr von seiner zweiten Frau Klara gewiss nicht ohne Mitwirkung ihres Herrn und im Konsens mit ihm geführt, über die schwierigen Jahre der „Karl -May-Hetze“, der infamen Skandalisierung, der permanenten Verfemung, Diskriminierung, Demütigung vom „Hosianna“ bis zum Versuch, ihn endgültig an das Kreuz zu nageln, vermitteln ein durchaus neuartiges Bild von Biografie, Werkschaffen, von der engen Verbindung mit der kleinen „Gemeinde“ im Inneren bis zu dem Kampf der Anhänger mit den rabiaten Gegnern im Äußeren. Die Ebenen wechseln: die Genrebilder gemütlicher Familienepisteln werden schnell ersetzt durch den aufgeregten Austausch von Informationen, ausgepichten Intentionen, von frechen Finten und schlauen Schlichen im Geheimen oder offenen Briefen in der zeitgenössischen Presse – mal von den „Kindern“ inszeniert, mal aus Radebeul animiert und mit Informationen versorgt.
Wer sind diese „Kinder“ des kinderlosen Schriftstellers? Der Germanist Hartmut Vollmer (Lüneburg) hat in Kooperation mit bekannten Forschern wie Hans-Dieter Steinmetz (Dresden) und Florian Schleburg (Regensburg) die unterschiedlich bedeutsamen Figuren aus der Fülle der Archivalien des Verlags und anderer Archive wieder ins klarere Licht geholt: die blutjunge glühende Verehrerin Marie Hannes, den „Neffen“ Willy Einsle, die bald als Karl Mays „schöne Spionin“ gerichtsnotorische, einfallsreiche Lu Droop, den jugendlich-begeisterungsfähigen Philologen Adolf Droop, neben manchen anderen, denen im Kontext nur eine gelegentliche, eine ephemere Statistenrolle zukommen wird. Die Familie mit dem lieben Onkel und der schreibfreudigen Tante hat sich erweitert.
Vollmer gelingt es, die engen familienähnlichen Bande wie die harten Brüche in diesem ungewöhnlichen Biotop der „Wahl- und Seelenverwandtschaften“ aufzuzeigen – zwischen den gläubigen, durch keinen noch so scharfen Angriff auf das Objekt der Begierde angefochtenen Verehrerinnen und ihren Briefpartnern und mit ihrem sich souverän gebenden, durch Klara May sorgsam abgeschirmten Idol. Der wähnt sich zuweilen selbst in die Enge getrieben oder im Drange der abnehmenden Auflagen auf der Höhe der Zeit, auf einem höheren Tableau mit dem nicht anfechtbaren Gestus des Präzeptors, Widerspruch und Hader bleiben nicht aus.
Karl Mays letztes Jahrzehnt kennt dir scharfen Gegensätze zwischen der bedingungslosen Ergebenheit der „Kinder“ und Gefolgsleute einerseits und dem erbarmungslosen, wenig christlichen Hass von Kirchenmännern und Schulmeistern andererseits. Auf solchem düsteren Hintergrund spielt sich die zuweilen sehr friedliche, in seinem zeitgenössischen Pathos oder in den schlichteren lyrischen Anmutungen hochgemuter Preisreden heute manchmal ungewohnt zu lesende, ehrgeizige Korrespondenz ab. Auch die artigen „Kinder“ streben nach Erfolg und buhlen ums Ansehen bei „Tante und Onkel“.
Der exzellent edierte und kommentierte Briefwechsel mit dem bis zur Selbstaufgabe angebeteten Schriftsteller birgt unerwartet reiche Schätze, die für die Biographie, das Selbstverständnis der Protagonisten, ihre grenzenlose Opferbereitschaft, aber auch für das Verständnis des Spätwerks wichtige Materialien sind. Einige der Korrespondenten finden sich, ob sie wollen oder auch nicht, verschlüsselt in der einen oder anderen Erzählung wieder. Bislang vorliegende Urteile von Fachleuten haben den biografisch-literarischen Wert dieser philologisch und historisch mit der Liebe zum Detail kommentierten Edition schon rühmlich aufgezeigt.
Es sind aber vor allem die Reflexe der rund 100 Prozesse, die Karl May zu führen hatte (von Jürgen Seul 2009 schon vorbildlich mit Dokumenten in Hülle und Fülle analysiert), welche diese inhaltlich disparaten und durch eine Reihe von Verlusten der May'schen Gegenbriefe manchmal einseitigen Briefwechsel für die Rechtsgeschichte so wertvoll erscheinen lassen: Literatur und Recht in ihrer engeren Verschränkung und im brieflichen, intimen, selten oder gar nicht auf spätere Publikation formulierten Widerhall.
In ihrem von ehrfürchtiger jugendlicher Anbetung bis zum bedenkenlosem, fast fanatischem Überschwang reichenden Einsätzen als „Spionin“ Mays gegen einen so minderen Gegner wie unerfreulichen Zeugen, den Indianer Brant – Sero und den fanatischen Erzfeind Lebius erlebt der Leser interne, geheime Entwicklungen und Skandalöses mit Lu Fritsch, dann zusammen mit Adolf Droop, immer wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, in listiger Camouflage als scheinbare Parteigängerin des Feindes sich anschleichend, als angehende Journalistin an vorderster Front oder gar als meineidig-gewitzte Zeugin vor Gericht, immer in der festen Überzeugung, für die Siege der Gerechtigkeit auf der richtigen, der moralisch gerechtfertigten Seite zu stehen und zu fechten.
Die Briefwechsel erlauben Einblicke und Einsichten in den privaten und juristischen Hintergrund der unzähligen, von der anwachsenden Zahl seiner unversöhnlichen Feinde angezettelten Gerichtsverfahren, aber auch in die von Karl May oftmals allzu unbedacht erstatteten Strafanzeigen und kostspieligen Beleidigungsverfahren. Der forensisch erfahrene Schriftsteller war, wie sich auch ablesen lässt, nicht immer durch eigenen common sense oder wechselnde Anwälte gut beraten. Die Jahre eines großzügig und verschwenderisch aus dem Vollen schöpfenden Autors, was die ersten sieben „fetten“ Jahre anging, die ihn und den Verleger zum Millionär machten, gehörten jetzt der Vergangenheit an. Die letzten Jahre warfen dunkle Schatten in fast jeder Hinsicht.
Die Schauplätze: bei den Prozessen gegen Verlage – der zivile Streit um Urheberrechte oder Honorare bis hinauf zum Forum des Reichsgerichts, in der Fülle der konfessionell, pädagogisch, literarisch oder kriminologisch aufgezäumten, auf Sensation und Enthüllungen spekulierende Angriffe in der Presse, die über das Reich verstreuten kleineren Amtsgerichte oder auch Schöffengerichte mit überforderten Strafrichtern. Dem prominenten Aufsehen oder der Komplexität nicht selten wenig gewachsen, ließen sie sich zuweilen zu seltsamen Judikaten verleiten. Was noch im 19. Jahrhundert oft bei Ehrenhändeln mit heimlichen Duellen ausgetragen worden war, hatte Platz gemacht für Prozesse mit Begleitung der für pikante Enthüllungen empfänglichen oder durch litigation-PR, wie man es heute nennt, schon damals befeuerten Skandalpresse. Claus Roxin hat freilich gezeigt, was sich auch in diesen Korrespondenzen nachlesen lässt, dass May in den meisten Gerichtsverfahren am Ende als Sieger hervorging.
Wenn die Kirche den angeblich gut katholischen Autor als fragwürdigen Protestanten mit einem etwas eigenen Evangelium entlarvt, wenn die langen Haftzeiten genüsslich aufgedeckt und dem Sünder vorgehalten werden, wenn Kriminalistik und Pädagogik Abenteuergeschichten als kriminogen, als sittenlos, als wenig erfreuliche Kulturerscheinung diffamiert werden, springen dem geplagten Autor intern und extern die jugendlichen Freundinnen und Freunde eilfertig und leichtsinnig zur Seite. Sie mögen nicht tatenlos zusehen, wie der verehrte und bislang über viele Jahre hinweg gerühmte Schriftsteller von Hetzern, Neidern und Verleumdern vom gutbürgerlichen Thron herabgestürzt wird.
Karl May, ein überaus geschickter, auf vielen Klavieren mal in Dur oder in Moll zu spielen fähiger Akteur, gerät nolens volens in ein Kreuzfeuer unterschiedlichster Affären, Interessen und gegnerischer Aktionen. Auch wenn sich, wie diese Briefe zeigen, kein gegnerisches Allein-Zentrum und kein als heimlich und allein funktionierendes feindliches Individuum oder eine zentrale Verfolgungsinstanz ausmachen lässt, es sei denn der ewige pathologisch-monologische Hasser Lebius, wenn also allenfalls einige der Gegner mehr oder weniger intensiv kooperieren, versuchen seine jugendlichen Anhänger einige nicht einmal mündig, sich in Gruppen- und Vereinsbildungen, in halbprofessionellen Artikeln und Erstlings-Schriften pro Karl May. Und erschöpfen sich in der vielfältigen, etwa in Berlin, in Dresden oder Stettin zu beobachtenden Einflussnahme auf Redakteure, Zeitungen und Zeitschriften. Erfolg hat man immerhin beim prominenten Pressemann Walden, dem May einen prominenten Anwalt und einen großen Erfolg verdankt.
Investigativ ist meist die schier unermüdliche Lu Droop unterwegs. Die internen Diskurse wechseln zwischen pubertärer Schwärmerei, Ermutigung, Ernüchterung, selten in kritischer Reflexion. So entfaltet sich ein biografisches Pandämonium, ein mehr oder weniger professionell agierendes familienaffines Gruppenphänomen zwischen Jahrhundertwende und der Zäsur, dem unerwartet frühen Tod Karl Mays im Jahre 1912. Eine Zäsur, die manche untergründigen Differenzen zwischen der nun mächtigeren Witwe Klara und den „Kindern“ aufbrechen lässt. Die arme gebeutelte Marie Hannes darf nicht über May dissertieren, die ehrgeizige bildschöne Lu Droop wird subtil an den Rand gedrängt. In Radebeul regiert eine neu sich gebende Allein-Herrscherin, die neben dem alten Verleger Fehsenfeld und dem neuen genialischen Verleger Euchar Schmid sich zu behaupten weiß.
Lu Fritsch, eine frühe Begabung auch in der Journalistik, später Drehbuchautorin, ragt in diesen Stürmen zwischen Teeglas und sächsischem Porzellan heraus, auch wenn manche Blütenträume in der harten Nachkriegsfilmschaft nach dem ersten Weltkrieg im Konkurs des Ustad-Filmprojekts dahinwelken, keine seltene fatale Folge von Filmkommerz und Filmrecht vor der Hoch-Zeit des deutschen Filmexpressionismus.
Die auch in folgenden Jahrzehnten verschlungenen Lebenswege dieser von Karl und Klara gewissermaßen gern adoptierten „Kinder“, die zuweilen erst erzogen oder zur Zurückhaltung ermahnt werden mussten, werden in einem chronologischen Anhang bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit vorgestellt. Der hier angedeutete Gehalt dieser vorbildlichen Edition, mit zahlreichen unbekannten Abbildungen setzt für alle ähnlichen Editionen erneut allerstrengste Maßstäbe.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen