Lucius von Ballhausen, Robert, Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Robert Lucius von Ballhausen

1871-1890, mit einem Nachwort v. Clark, Christopher M. (= Begegnungen mit Bismarck Band 2). Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2020. 544 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

Die Entscheidung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, anlässlich des 150. Jahrestags der Reichsgründung zwei zentrale Memoirenwerke von Mitarbeitern und Wegbegleitern Otto von Bismarcks unter dem Motto „Begegnungen mit Bismarck“ neu aufzulegen, beschert dem Leser neben „Fürst und Fürstin Bismarck“ Robert von Keudells aus den Jahren 1846 bis 1872 auch die „Bismarck-Erinnerungen“ des Staatsministers Robert Lucius von Ballhausen, die Bismarcks Jahre als Kanzler des von ihm aus der Taufe gehobenen Kaiserreichs von 1871 bis 1890 behandeln. Neben den nachgelassenen autobiographischen und sonstigen Schriften des Eisernen Kanzlers stellen solche Werke aus der unmittelbaren Umgebung des Reichsgründers wichtige Quellen zum Verständnis seiner Persönlichkeit und seiner politischen Handlungen dar. Dabei ist – wie bei jeder historischen Quelle – der jeweilige Wert immer kritisch anhand des Entstehungskontextes und der damit verbundenen Intentionen zu überprüfen.

 

Wie im Falle des angesprochenen Erinnerungswerks von Robert von Keudell, hat der in Cambridge wirkende Historiker und Bismarck-Spezialist Oliver F. R. Haardt grundlegende Feststellungen auch zur Arbeit des Robert Lucius von Ballhausen (1835 – 1914) getroffen. Diese sind allerdings nicht im hier zu besprechenden Band abgedruckt, sondern müssen in der Einführung „Phantom im Scheinwerferlicht“ zur Keudell-Neuausgabe nachgeschlagen werden. Das von einem Sohn des Verfassers, Hellmuth Lucius von Stoedten, geschriebene kurze Vorwort liefert lediglich einige biographische Daten, ein Nachwort aus der Feder Christopher Clarks hauptsächlich eine Zusammenfassung seines – Clarks – persönlichen Zugangs zum Phänomen Bismarck, wobei er Ballhausen als einen „durch und durch Bismarckianer“ bezeichnet (S. 542). Nach Haardt lese sich „Ballhausens Biographie – großbürgerliche Herkunft, Eintritt in die Armee, Aufstieg durch die Offiziersränge, Nobilitierung und Aufnahme in das Herrenhaus auf Lebenszeit – wie ein Paradebeispiel für die […] marxistische These der Feudalisierung und Militarisierung des Bürgertums“ (Haardt, Einf. zu Keudell S. 17).

 

Die Familie Lucius war eine gutsituierte und kinderreiche Erfurter Fabrikantendynastie, sodass Robert eine erstklassige Ausbildung erhielt und 1858 in Breslau in Medizin promovieren konnte. Danach nahm er bis 1862 als Mediziner am spanischen Marokkofeldzug und an der preußischen Ostasienexpedition teil und trat nach seiner Rückkehr in die Heimat in die preußische Armee ein, in deren Reihen er als Offizier die drei deutschen Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870 miterlebte. 1866 soll er nach der Königgrätzer Schlacht erstmalig persönlich mit Bismarck zusammengetroffen sein.

 

Ab 1870 startete Robert Lucius von Ballhausen eine politische Karriere als Abgeordneter der Freikonservativen, die bis 1893 dauerte und 1879 in der Funktion des Vizepräsidenten des gesamtdeutschen Reichstags gipfelte. Über gemeinsame Bekannte „entstanden nach Roberts Eintritt in den Berliner Politikbetrieb bald ein vertrauensvolles Verhältnis und schließlich eine innige Freundschaft zu Bismarck […,] Robert (wurde) zu einem fast täglichen Gast im Hause Bismarck“. Der Kanzler berief ihn 1879 zum preußischen Landwirtschaftsminister, in ein Amt, das Robert bis 1890 umsichtig und kompetent ausübte. Im Dreikaiserjahr 1888 erfolgte auf Bismarcks Vorschlag seine Erhebung in den erblichen Freiherrenstand. Da drei der älteren Lucius-Brüder ebenfalls für verschiedene Parteien als Abgeordnete tätig waren, konnte Bismarck dergestalt „nicht nur seine Hausmacht bei den Freikonservativen pflegen, sondern auch das Netzwerk der Lucius-Brüder ausnutzen und Bande zu den anderen großen Fraktionen knüpfen“ (Haardt, Einf. zu Keudell S. 16).

 

Während seiner politischen Tätigkeit ab 1870 legte Robert Lucius von Ballhausen seine Wahrnehmung des Berliner Regierungsbetriebes in Tagebüchern nieder, die er laut eigenem Bekunden nach Bismarcks Tod zu den vorliegenden „Erinnerungen“ zusammenzufassen begann. Sie wurden zum Druck vorbereitet, aber erst nach seinem eigenen Ableben 1914 von Sohn Hellmuth veröffentlicht, da persönliche Rücksichten ebenso wie wirtschaftliche Interessen ohne Belang bleiben sollten. Auf über 500 Seiten behandeln insgesamt zwanzig Kapitel jeweils ein Jahr der Kanzlerschaft Bismarcks. Die detailreiche Differenzierung der Inhaltsübersicht – diese Regesten ähnliche Untergliederung reicht von minimal zwei Druckzeilen für das Jahr 1872 bis zu annähernd einer Druckseite für das ereignisreiche Jahr 1888 – erleichtert die Nachsuche bestimmter Vorgänge erheblich. Die etwa 70 Seiten Anlage versammeln mehrere Dokumente, überwiegend Korrespondenz zwischen dem Verfasser und dem Fürsten Bismarck sowie dessen Sohn Graf Herbert von Bismarck. Wenn auch nicht gänzlich „frei von befangenen Lobgesängen“, habe im Vergleich mit dem nachträglichen Report Robert von Keudells über Bismarcks frühe Jahre Robert Lucius von Ballhausen „ein sehr viel kritischeres Werk (produziert), in dem er seine eigene Rolle bemerkenswert nüchtern betrachtet. […] Dabei kommt das Ringen um innen- und außenpolitische Entscheidungen genauso zur Sprache wie die zahlreichen Krisen und Intrigen des Berliner Regierungsbetriebes, Bismarcks häufige Strategiewechsel und Stimmungsschwankungen und seine zahlreichen Auseinandersetzungen mit Parlamentariern, Journalisten, Ministern und dem Kaiser“ (Haardt, Einf. zu Keudell S. 20f.).

 

In Anbetracht der zentralen Bedeutung der Inhalte, die Lucius‘ Aufzeichnungen vergegenwärtigen, ist deren Neuauflage ohne Einschränkung zu begrüßen. Schmerzlich vermisst man in Anbetracht der Vielzahl der im Text auftauchenden Persönlichkeiten das Fehlen eines Namensregisters; ein solches zu erstellen sollte jedenfalls technisch machbar sein. Hingegen wäre es eine reizvolle editorische (und vor allem wohl auch finanzielle) Herausforderung gewesen, das klassische Werk zusätzlich mit einem die neueste Bismarck-Forschung rezipierenden Kommentar auszustatten  Diese Gelegenheit wurde leider nicht genützt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic