Haardt, Oliver F. R., Bismarcks ewiger Bund.
In dem Bemühen, die Entwicklung des von Otto von Bismarck aus der Taufe gehobenen Deutschen Kaiserreiches zu verstehen, rückt der in Cambridge wirkende, 2017 bei Christopher Clark promovierte Historiker Oliver F. R. Haardt nunmehr ein noch wenig beachtetes Element in das Zentrum seiner Betrachtung: die Ausgestaltung und politische Instrumentalisierung der föderalen Strukturen dieses ersten deutschen Nationalstaates. Die bisherige Vernachlässigung dieses potentiell aussagekräftigen Feldes habe ihre Ursache nicht zuletzt in einer „etwas altbacken(en)“ Weise der Beschäftigung mit der Verfassungsgeschichte: „Der strukturelle Kern der Verfassung, das heißt das von dieser vorgegebene Gefüge zwischen den verschiedenen Organen und Regierungsebenen des Bundesstaates, wird […] zumeist als ein politisches oder als ein rechtliches, nicht aber als ein ganzheitliches kulturelles Phänomen betrachtet. Dieses vorherrschende Verständnis ist überaus problematisch. Statt die Verfassung als einen Teil der dynamischen Kultur des Kaiserreiches zu betrachten, trennt es sie nämlich von selbiger ab. Dadurch filtert es unseren Blick quasi vor, da die Verfassung so zwangsweise als starres Rechtsgefüge erscheinen muss“ (S. 11).
Oliver Haardts angebotene Alternative ist ein innovativer Ansatz, der „Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte“ schreiben will: „Statt die Reichsverfassung als eine bloße juristische Paragrafensammlung zu sehen, die die Funktionen der einzelnen Elemente des föderalen Regierungssystems sowie die diversen prozessualen Abläufe zwischen ihnen regulierte, versteht dieses Buch sie als eine textgewordene intellektuelle Anstrengung, die […] ganz bestimmte Absichten verfolgte. […] Dieses Buch versteht die Reichsverfassung als ein Kulturartefakt der Reichsgründungszeit, das sich zusammen mit der politischen Umgebung, in der es existierte, ständig wandelte. Dementsprechend betrachten die folgenden neun Kapitel die Verfassung gewissermaßen als einen Speicher von Erkenntnissen, Erinnerungen und Erwartungen, der in ein dichtes, die Grenzen der deutschen Einzelstaaten und mitunter sogar des Reiches überschreitendes Ideennetz eingebunden war und mit seiner Umwelt fortwährend in einer engen Wechselbeziehung stand“ (S. 12). Den Protokollen des Bundesrates und den von den konventionellen Geschichtswissenschaftlern kaum rezipierten Kommentaren der zeitgenössischen Staatsrechtler die ihnen gebührende Beachtung einräumend, will sich der Verfasser klassischen Fragen von diesem neuen Standpunkt aus nähern und dabei nicht die bisherige Forschung „widerlegen“ oder „ersetzen“, sondern „justieren und […] ergänzen“ (S. 15). Das entwickelte Narrativ soll erweiterte Antworten liefern und dabei drei elementare Stränge miteinander verweben: eine „eigenständige Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches“, eine „Analyse des Wandels der föderalen Regierungsstrukturen“ zur Durchleuchtung der „Anatomie der Macht im Kaiserreich“ sowie eine allgemeine „föderale Systemanalyse“ (S. 18).
Den inhaltlichen Kern des Bandes bilden drei Großabschnitte zu je drei Kapiteln. Teil I widmet sich der Reichsgründung. Die Aufmerksamkeit der ihm zugeordneten Kapitel wandert von den prägenden Geburtsmerkmalen des neuen Bundesstaates über die Dekonstruktion der Mär vom Fürstenbund hin zur Analyse der Diskussion im verfassungsgebenden Reichstag und damit des komplexen Aufbaus der Reichsverfassung. Teil II zeichnet dann die weitere Entwicklung des Kaiserreiches hin zu einer unitarisch realisierten Reichsmonarchie nach, verkörpert in der Erhebung des kaiserlichen Reichsmonarchen und seines Führungsapparates über die übrigen Fürsten, in der Unterwanderung und Zurückdrängung des Bundesrates und in dem Aufstieg des Reichstags in Folge einer Reihe von sich zwischen den verschiedenen, für föderale Entscheidungen zuständigen Verfassungsorganen dynamisch vollziehenden Umstrukturierungsprozessen. Der „Ruhelosigkeit“ betitelte Teil III der Darstellung geht auf drei essentielle Faktoren ein, die der Stabilisierung eines föderalen Regierungssystems entgegenwirkten. Diverse Fallanalysen vergegenwärtigen, dass sich bei Verfassungsstreitigkeiten das Prinzip „Macht vor Recht“ immer mehr durchsetzte. Ferner habe die einseitige Dominanz der Reichsstaatslehre im Verfassungsdiskurs die föderale Entwicklung des Regierungssystems behindert, was nicht zuletzt auch auf die Tatsache der bloßen Existenz einer imperialen Peripherie in Elsass-Lothringen und in den Kolonien mitsamt ihrer unheilvollen Rückwirkungen auf das Zentrum zutreffe. Eine tragende Rolle nehmen die Materialien ein, auf die der Text aufbaut und Bezug nimmt. So wird die Motivation der jeweiligen Akteure in der Phase der Reichsgründung anhand zahlreicher zeitgenössischer Karikaturen enthüllt, Kaiserporträts vergegenwärtigen in ihrer Ikonographie das jeweilige Verständnis von Herrschaft. Auch einige namhafte Proponenten des staatsrechtlichen Diskurses treten im Bild in Erscheinung, so Hugo Preuß, Otto von Gierke, Albert Hänel und Paul Laband. 14 gleichförmige Graphen dokumentieren im Anhang Details der Beschickung des Bundestags in der Zeit von 1871 bis 1918, während eine über zwei Seiten gedruckte Karte des Kaiserreiches für denselben Zeitraum die ungleichen realen Machtverhältnisse zwischen Preußen und den übrigen Gliedern des Reiches unmissverständlich klarmacht.
Als konsequenter Schüler Christopher Clarks erweist sich Oliver Haardt, wenn er nicht in der Vergangenheit verweilt, sondern darüber hinaus die Brücke herauf zur Gegenwart schlägt. Der im Deutschen Kaiserreich zum Usus gewordene unselige Umgang mit dem Föderalismus provoziere Vergleiche mit den republikanischen Föderalordnungen der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und der Schweiz ebenso wie den Blick auf entsprechende Kontinuitäten im weiteren Werdegang Deutschlands und die Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Union (EU). Das monarchische Wesen des ersten deutschen Bundesstaates mit seiner Dichotomie monarchisch-beharrender und zum Parlamentarismus drängender Kräfte habe bedingt, dass sich beide Gruppen „in einem ständigen Konflikt gegenüberstanden: Zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen waren sie gezwungen, die föderalen Strukturen des Verfassungssystems zu verbiegen, zu verstärken oder auszuhöhlen, sprich: als ein Kampfmittel in der Auseinandersetzung um die Regierungsgewalt zu behandeln. Folglich war nicht etwa Recht oder Zweckmäßigkeit, sondern Machtkalkül der wichtigste Antriebsmotor der Evolution des Bundesstaates. […] Einen nennenswerten Eigenwert maßen beide Seiten der bundesstaatlichen Organisation des Reiches […] nicht zu“. Diese Grundeinstellung zum Föderalismus war sowohl in den USA als auch in der Schweiz ganz anders, nämlich positiv konnotiert: In den USA wurde „die föderale Organisation des Nationalstaates von Anfang an nicht zuletzt als eine Vorkehrung zum Schutz individueller Freiheit vor einer willkürlichen Ausuferung staatlicher Gewalt“ wertgeschätzt, während der Föderalismus in der Schweiz „zu einem über Jahrhunderte gewachsenen ‚Ideengeflecht‘ (gehörte), durch das sich die Eidgenossenschaft von den homogenen Nationalstaaten absetzte“ (S. 805f.). Im Unterschied zum Kaiserreich der Hohenzollern mangelte es beiden jeweils nicht an starken Legitimationsquellen, der Freiheit von Hegemonialmächten, ordentlichen Kommunikationsforen zur Koordination der verschiedenen Entscheidungsträger, mächtigen obersten Gerichtshöfen zum Schutz der Verfassung und breiten dynamischen, nicht auf den Rechtspositivismus beschränkten Staatsrechtsdiskursen.
Auch wenn Oliver Haardt der Kategorie des Sonderwegs eine Absage erteilt – jede föderale Entwicklung stelle letztendlich einen solchen dar, weshalb dieses problematische Etikett ohne Aussagewert sei –, so zeigt er doch klar die Verwerfungen auf, die der Mangel an Wertschätzung für die föderale Organisation schon in der Weimarer Republik (Papens „Preußenschlag“) und erst recht unter der nationalsozialistischen Herrschaft (Gleichschaltungsgesetze) nach sich zog. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde „der demokratische Zentralismus nach russischem Vorbild […] das Gegenmodell zu dem föderalen Staatsmodell der Bundesrepublik und ihrer wichtigsten Schutzmacht, den Vereinigten Staaten“. Doch auch in der Bundesrepublik wurde zunächst „der Bundesstaat des Grundgesetzes […] ohne eine klar erkennbare, positive Daseinsberechtigung geschaffen“ (S. 839). Die Entwicklung lief dann dahin, dass – trotz manch empfindlicher Kritik an föderalen Strukturen im Detail (Kompetenzverteilung in den Bereichen Bildungspolitik, Terrorismusbekämpfung, Klimaschutz, Seuchenbekämpfung) – „der Föderalismus mittlerweile in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit als ein hohes Gut wahrgenommen (wird), das ganz wesentlich zur politischen Stabilität und wirtschaftlichen Kraft Deutschlands beiträgt“ (S. 843). Will heißen: nicht zuletzt die Länder begründeten mit der umsichtigen Nutzung ihrer Kompetenzen eine „föderale Erfolgsstory, die so weder in der Kaiserzeit noch in der Weimarer Republik ein Äquivalent besaß“ und „die bundesstaatliche Organisation Deutschlands im Laufe der vergangenen sieben Jahrzehnte auf eine positive Legitimationsgrundlage [stellte]“ (S. 845).
Wenn sich natürlich, so der Verfasser, „aus der föderalen Evolution des Kaiserreiches keine konkreten Handlungsanweisungen für eine Reform der EU ableiten (lassen)“, so könne man doch „einige interessante Beobachtungen anstellen, die dazu anregen, über die Fortbildung der europäischen Föderalstrukturen in einem anderen Licht nachzudenken“ (S. 850). In erster Linie gehe es in der EU darum, fundamentale Strukturmängel der wilhelminischen Ordnung nicht fortzuschreiben. „Die Einrichtung eines effektiveren Systems zur Einbindung der Mitgliedsstaaten, die Fortbildung der Verträge zu einer ordentlichen Verfassung, die Institutionalisierung einfacherer, transparenterer und berechenbarerer Entscheidungsprozesse, die Aufwertung des Europäischen Gerichtshofes zu einem allen nationalen Instanzen übergeordneten Verfassungsgericht, die Schaffung einer parlamentarisch verantwortlichen Unionsregierung und die Entwicklung einer politischen Kultur, die den Föderalismus als das beste Organisationsprinzip für Europa versteht – zusammengenommen verlangen diese Denkanstöße, zu denen uns ein Blick in die föderale Geschichte des Kaiserreiches anregt, nicht weniger, als die EU von Grund auf zu reformieren“ (S. 855f.).
Richtet man gezielt den Blick auf das weitreichende analytische Potential des Ansatzes der vorliegenden Arbeit, braucht man kein großer Prophet zu sein, um ihr den Aufstieg in die Riege der Standardwerke zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs zu prognostizieren. Inspiration für rechtsphilosophische und rechtsgeschichtliche Exploration bietet der Band durchgehend, im besonderen Ausmaß aber in den Kapiteln III.7 „Macht vor Recht“ und III.8 „Der Widerstreit der Ideen“.
Kapfenberg Werner Augustinovic