Niederprüm, Eric, Das Erfordernis einer Kommunikationsordnung für soziale Netzwerke

(= Recht der Neuen Medien 81, zugleich Diss. jur. Mannheim 2020). Kovac, Hamburg 2021. XXXVII, 373 S. Angezeigt von Albrecht Götz von Olenhusen. ZIER 11 (2021) 80. IT

Seit George Orwells Roman „1984“ haben sich totalitäre Schreckensvisionen nur in Teilen geändert. Der Verfasser rekurriert eingangs auf die Szenarien von Dave Eggers in der Machtstruktur „The Circle“. Dort werden in Science-Fiction-Form Probleme literarisiert, die durch konzentrierte Daten- und Meinungsmacht von Netzwerk-Betreibern bereits realiter vorherrschen, drohen oder eintreten können. Wie diese aktuell seit einigen Jahren sich zunehmend manifestieren, lässt sich mit dem Stichwort Cambridge Analytica und dem Einfluss ähnlicher dubioser Institutionen auf demokratische Meinungsbildungsprozesse deutlich demonstrieren.

 

Ziel der Studie ist es, die Bedeutung der Berichterstattung durch und in den sozialen Medien in den Mittelpunkt zu rücken. Daran knüpft sich die Fragestellung: Ist eine rechtliche Regulierung sozialer Netzwerke sinnvoll oder gar zwingend?

 

Die weit ausgreifende und sehr fundierte, bis in verästelte Details vordringende Untersuchung, betreut von Thomas Fetzer, Mannheim, knüpft an die bereits vorliegenden faktischen und rechtlichen Strukturen an. Gegenstand ist vor allem der sog. Newsfeed sozialer Netzwerke und ihr Einfluss auf die Meinungsbildung der Nutzer. Auf der Grundlage der kommunikationswissenschaftlichen Grundlagen folgt im weiteren Verlauf die rechtliche Einordnung.

 

Im zweiten Teil steht das Konfliktfeld soziale Netzwerke und freie Berichterstattung im Blickpunkt. Dazu zählen nach den Begriffsbestimmungen die Akteure: Plattformbetreiber, Inhalteanbieter, Nutzer, Werbetreibende.

 

Bei der Regulierungsbedürftigkeit spielt die allgegenwärtige Meinungsbildungsrelevanz eine wesentliche Rolle. Die Parallelen zum klassischen Rundfunk werden aufgezeigt, Meinungsmanipulationen, die Phänomen Hate Speech, Fake News, Social Bots erläutert, die Konzentrationstendenzen analysiert und die Argumente für und gegen Regulierungsbedürftigkeit abgewogen.

 

Der primärrechtliche und völkerrechtliche Schutz freier Berichterstattung liefert eine weitere Basis im dritten Abschnitt. Dabei geht es um das Europäische Recht, die EU-Grundrechte, den Schutz nach deutschem Recht (Art. 5 GG), die Reichweite des deutschen Rundfunkrechts besonders nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, hier vor allem nach dem 18. Rundfunkurteil sowie nach   den Entscheidungen zum „Recht auf Vergessen“. Im Ergebnis sieht der Verfasser die Berichterstattung in und durch die sozialen Netzwerke als Rundfunk an. Daraus folgt für ihn die Pflicht zu einer entsprechenden Regulierung mit den Maßgaben, die auch für den Rundfunk in den Grundzügen gelten. Dann ist es allerdings nicht allein mit einer Einbeziehung in Rundfunkstaatsverträge allein getan.

 

Bei dem Status quo (Kapitel 4) liegt das Gewicht auf dem Kartellrecht als Instrument der Regulierung. Dessen verhaltenssteuernde Funktion ist hingegen, wie mit Recht begründet wird, begrenzt. Es hätte nahegelegen, diesen ausladenden, durchaus interessanten Teil bezogen auf die engere Fragestellung knapper zu fassen.

 

Das vielfältige Medienrecht als Instrument wird detailliert dargestellt. Dazu gehören auch die Defizite in den jeweiligen generell oder speziell einschlägigen Rahmenbedingungen. Dabei wird auch das neue NetzDG in Augenschein genommen. Für den Leser ist vor allem die sehr eingehende Perspektive auf die diversen existierenden Rechtsgrundlagen nützlich. Wie ein von dem Verfasser erwünschtes Rundfunkrecht der sozialen Netzwerke aussehen könnte, lässt sich strukturell und inhaltlich vorzüglich ablesen.

 

Die Regulierungsstrategien für soziale Netzwerke (sechstes Kapitel) zeigt Implementierungsmöglichkeiten auf. Im Schlussteil werden die Thesen zusammengefasst.

 

Die nach ihrem Umfang sowohl im Einzelnen wie generell sehr eingehende Darstellung kann hier nicht im Detail referiert oder kritisch beleuchtet werden. Sie bestätigt aber den schon bekannten Eindruck, dass es an sachspezifischer rechtlicher Regulierung weitgehend mangelt. Die sozialen Netzwerke sind zwar kein, wie so oft postuliert wird, „rechtsfreier Raum“. Dennoch reicht die Basis und die effektive Reichweite geltenden Rechts nicht aus, um den spezifischen Bedingungen der sozialen Netzwerke mit ihren globalen, sozialen und rechtlichen Auswirkungen sachgemäß und ihren Sonderformen einschließlich der Spezialprobleme entsprechend zu begegnen und die auftretenden Schwierigkeiten so zu beherrschen, dass Lösungen dogmatisch wie praktisch in das weithin unbestellte Haus Einlass finden würden.

 

Allein die bis in die Gegenwart reichenden Sonderdebatten um die Revision des NetzDG zeigen auf, dass die verfassungsrechtlichen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen kritischer Betrachtung bedürfen. Die Voten von Experten in den Mühen des Gesetzgebers haben das vor allem dann bewiesen, wo sie vernachlässigt worden oder folgenlos geblieben sind.

 

Den Mängeln wäre auch ohne Rücksicht auf Recht der Europäischen Unionrein rechtlich relativ problemlos abzuhelfen. Es bedürfte allerdings einer speziellen Ausformung vor allem im Medienrecht. Hier scheinen sich jedoch politische wie wirtschaftliche Hemmnisse so aufzutürmen, dass die Ergebnisse nicht dafür sprechen, dass der Gesetzgeber seinem Beruf oder gar seiner Berufung zu entsprechen sich in der Lage fühlt. Vermutlich werden erst künftige Studien über die Einflüsse von Lobbys auf die Debatten seit dem Erlass des ursprünglichen NetzDG und um die Ausformungen des Rundfunkstaatsvertrages dereinst Einblick in hemmende Wirkungskräfte ermöglichen.

 

Obwohl die Studie, 2021 erschienen, den Stand ihrer Abgabe Ende 2017 wiedergibt, ist sie in Bezug auf neuere Entwicklungen partiell etwas ergänzt worden. Das zeigt auch das Literatur- und Quellenverzeichnis. Es wäre  jedoch sinnvoll gewesen, die neuere Forschungs- und Kommentarliteratur zwischen 2018 und 2020 hier ausgiebiger mit zu berücksichtigen. Auch die Kommunikationswissenschaft ist seitdem nicht gerade in Stillstand geraten. Da allerdings der Gesetzgeber aus diversen Gründen, die sich aus der Arbeit implizit und explizit ergeben, sich eher im Schneckengang fortbewegt und von politischer Kompromisswirtschaft begünstigt nur in Teilbereichen gelegentlich und meist punktuell und mühselig auf offenbare Leerstellen reagiert, wirken sich die Grenzen der Studie nicht allzu schwerwiegend auf Ergebnisse und Stand der Forschung aus.

 

Für den gegenwärtigen und künftigen Gesetzgeber ist vielmehr mit dieser Grundlagenarbeit und vor allem durch die Beschreibung des Status Quo der minutiös aufgezeigten Regulierungsfehlstellen, der Möglichkeiten und Strategien für die Zukunft eine vorzügliche Handreichung gegeben, wo und wie zweckmäßigerweise anzusetzen wäre.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen