Wagner, Wolf-Rüdiger, Die Entstehung der Mediengesellschaft.

100 Mediengeschichten aus dem 19. Jahrhundert. Transcript-Verlag, Bielefeld 2022. 405 S. Ill. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen. ZIER HP 12 (2022) 50. IT

Die spezielle, die exklusive und sonst kaum einmal für die Geschichte der Medien des 19. Jahrhunderts fruchtbar gemachte Fülle an Material allein wäre schon Grund genug, diese selten geübte Art opulenten Zugangs für eine neuartige Sicht auf die stufenweise Entstehung der Mediengesellschaft rühmend hervorzuheben. Die enorme Spannweite reicht zum Beispiel vom „Magazin der neuen Erfindungen“, vom „Pfennig-Magazin“, von der „Ilustrirten Zeitung“ über den „Almanach der Fortschritte ...“, die „Didaskalia. Blätter für Gemüth und Publizität“ oder „Die Gartenlaube“ bis hin zu speziellen Hand- und Jahrbüchern der Wissenschaft, Technik und Kunst - in einer fast unüberschaubaren Flut von divergierenden Quellenschriften, Zeitungen, Zeitschriften und Lexika.

 

Die bewusst gar nicht planmäßig durchgeführte Auswahl aus wissenschaftlichen und populären Annalen und Journalen folgt einem Jahres-Dekalog zwischen 1801 und 1900. Mit diesen nicht inhaltlich, sondern strikt temporär versammelten Informationen über das ungemein vielfältige Spektrum kultureller Entwicklungspraxis der Naturwissenschaften, der Technik oder der Medizin soll aus 100 „Mediengeschichten“ ein Bild, wenn nicht ein Gemälde der wissenschaftlichen und populären Weltaneignung im kulturellen Kontext ihrer veränderlichen Welterschließung entstehen. Vielleicht nicht zufällig taucht anfangs ein Zitat Goethes zur „Witterungskunde“ eines Heinrich Wilhelm Brandes auf: „Hier zeigt sich wie ein Mann, die Einzelzeiten ins Ganze verarbeitend, auch das Isolirteste zu nutzen weiß.“

 

Der mit alten wie neuen Techniken der Mediengeschichte und –Pädagogik vertraute Verfasser votiert für einen ungewöhnlich weiten Medienbegriff. Für ihn zählen seltsame Messgeräte wie das Heliotrop ebenso dazu wie Sternenkarten, mechanische Musikinstrumente, Vorgänger von Mikroskopen und Teleskopen, skurrile Skroboskopien, frühe Fotografie, Telegrafie, Postkarten, Dioramen, Zeitungen, Taubenpost und Stenografie, Zeitschriften, Litfass-Säulen, Nachrichtenagenturen oder überhaupt alle funktionalen Techniken der Wissensproduktion samt deren Verbreitung. Hier steht Alexander von Humboldt mit seinen Wegmarken der genauen Beobachtung ebenso Pate wie die Zahlenwissenschaft eines Mathematikers wie Gauß. Doch liegt ein Schwerpunkt dieser technisch imprägnierten Historie aus wenig quantifizierten Einzelteilen nicht so sehr auf Patenten oder Systemen als solchen, sondern auf den so verstandenen Medien als Werkzeugen der Entstehung und Verbreitung von – aus damaliger Sicht – relevant erscheinenden neuartigen Themen und Objekten der Wissenschaft. Unter ihnen verdankten sich viele allerdings auch militärischen Bedürfnissen. Das wird kaum reflektiert.

 

Seinen besonderen Reiz entfalten die zahllosen, zuweilen folgenlosen Anfänge oder zufälligen Rudimente späterer Fortentwicklungen, wichtige Erfindungen der Mittel und Methoden der Produktion und Distribution durch anschauliche zeitgenössische Abbildungen von der „Camera Obscura“ über die „Camera Lucida“, das Stereoskop bis hin zum singulären „Sioptikon“ oder dem Massenmedium „Panorama“. Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Momente für die Entwicklung von gesellschaftlich verstandenen Medienstrukturen von gleicher Wertigkeit und Wirkung sein konnten.

 

Das pointillistisch entfaltete Medien-Prisma gewinnt durch  anschauliche Erzählungen von mehr oder weniger intendierten Erfindungen und Entwicklungen – etwa von der einzelnen künstlerischen Grafik bis zur Linotype-Maschine - eine eigene Dimension, in der das nur aus zeitgenössischen Publikationen stammende Material, zwischen Erfindungs-, Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte oszillierend, die Basis bildet für die These, dass Mediengeschichte vor allem eine solche der Sicht auf die Welt und deren spezifische Aneignung durchs geneigte Publikum gewesen sei.

 

Mit dieser auch theoretisch in weite Sphären reichenden, diskussionsbedürftigen Perspektive bietet die interessante Mischung aus detaillierter, pointierter Einzel-Geschichte von heute teilweise fast vergessenen Entdeckungen, Erfindungen und so sensationellen Innovationen wie den Röntgenstrahlen bis hin zu anderen relevanten Ursprüngen und heute noch nachwirkenden epochalen Anfängen ein farbenfroh schillerndes Kaleidoskop.

 

Der Leser wird eingeladen, mit den Augen der Zeitgenossen, die sich von allgemeinen wie speziellen Medien informieren und unterhalten ließen, den medial vermittelten Blicken zuzuwenden, mit denen sich ein Jahrhundert in je zehn Jahresschritten an Novitäten erfreute und begeisterte. Er vermag mit einer implizit und explizit präsentierten narrativen Mentalitätsgeschichte als fragmentarisches Fundament sich mit disparaten wie in viele Richtungen neigenden Medienentwicklungen im 19. Jahrhundert vertraut zu machen. Welche Schichten aber bildeten die Zielgruppen? Wie vollzog sich quantitativ und qualitativ die Rezeption? In welchen nicht einem einzigen Jahrzehnt verpflichteten Schüben und mit welchen Strukturen? Das Jahrhundert der Erfindungen, der Entdeckungen, der wie auch immer sich in zeitgenössischen Medien vorgestellten Neuigkeiten lässt sich so wenig mit Zehnjahres-Schritten durchqueren wie mit dem pauschalisierend verwendeten Zuschnitt des „langen 19. Jahrhunderts“.

 

Wenn diese für sich und für die Ursprünge allgemeinerer Entwicklungen nicht durchweg prototypischen Einzelschritte sich nicht allenthalben als ein möglicher Ausdruck von wesentlichen oder einsamen Teilstücken und direkten oder indirekten Pfaden zur Mediengesellschaft heutiger Prägung erweisen sollten, so ist dennoch durch unterhaltsam-luzide Einblicke in Genese und Vermittlung von Wissenschaft, Technik und Kultur jedenfalls eine bemerkenswerte Teilfläche und multiperspektivische Tapete eines vielstöckigen Hochhauses erreicht. Vom der Dachterrasse blickt der heutige Betrachter einer medienorientierten Kulturgeschichte ohne allzu sicheres Geländer ein wenig bänglich auf damalige feuilletonistische oder fundierte Reflexe herunter: auf als relevante Fortschritte empfundene bis auch nur wunderliche Fundstücke wie auf wie von Zauberhand erscheinende Phänomene der Jahrhunderterfindungen in Reportagen unterschiedlicher Art und Güte. Im „Grazer Tagblatt“ mochte im Jahre 1896 angesichts des bahnbrechenden Kinetoskop von Edison und den Gebrüdern Lumière und ihrer „lebenden Photographien im Dienste der Menschheit“ unversehens gar das mulmige Gefühl entstehen: „Es fängt an, unheimlich zu werden.“

 

Das umfängliche Abbildungs-, das Literatur- und Quellenverzeichnis ist zugleich Ausdruck der vielseitigen Anschauung auf bisher selten so intensiv genutzte Materialien. Für eine neue Auflage wäre ein Namensverzeichnis erwünscht.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen