Lebendiges Wasser –

– Beiträge zur Mikwe Friedberg (Hessen), hg. v. Kögler, Johannes (= Wetterauer Geschichtsblätter Band 67). Friedberg (Hessen) 2021. 208 S., zahlreiche Abb., 2 Beilagen. Besprochen von Reinhard Schartl. ZIER 12 (2022) 30. IT

Das jüdische Recht, wie es in Mischna (IV. Ordnung: Reinheitsvorschriften) und Talmud überliefert ist, schreibt Männern und Frauen zu einer Vielzahl von Lebenssituationen vor, sich, aber auch Gegenstände durch ein Tauchbad rituell zu reinigen. Essentiell ist es, dass das Wasser nicht „stehend“, sondern „lebendig“ sein muss, wie schon die Thora lehrt (3. Buch Mose 11, 36: „Doch die Brunnen und Gruben und Teiche bleiben rein“). Den jüdischen Gemeinden oblag es daher als eine der ersten Maßnahmen, eine Mikwe mit fließendem Wasser, in der Regel Grundwasser, anzulegen. In der bereits 1241 erstmals erwähnten Friedberger Gemeinde geschah dies durch einen ca. 25 m tiefen Schacht mit rechteckigem Grundriss, der mittels einer Wendeltreppe entlang der Wände bis zum Grundwasser begehbar ist. Die im Laufe der Jahrhunderte aufgetretenen Bauschäden führten 1902/1903 zu einer Renovierung unter Leitung des Architekten Hubert Kratz, der zuvor bereits mit der aufwändigen Renovierung der gotischen Stadtkirche beauftragt worden war. Unter den mittelalterlichen Mikwen ragt das Friedberger Bauwerk durch Größe und künstlerische Gestaltung heraus. Es bestand deshalb aller Anlass, diesen einzigartigen „unterirdischen Turm“ 2010 mit einer Vortragsreihe sowie einem interdisziplinären Symposium mit dem Titel „Lebendiges Wasser“ zu würdigen, dessen Erbauung mit dem Jahr 1260 angenommen wurde und der damit auf eine 750jährige Geschichte zurückblicken würde. Sieben der damals gehaltenen Vorträge sind nunmehr – nach Überwindung technischer Widrigkeiten mit einiger Verzögerung – als Beiträge in einem Band der Wetterauer Geschichtsblätter zusammengefasst. Der Herausgeber, Johannes Kögler, zugleich Leiter des Wetterau-Museums, behandelt im ersten Beitrag „750 Jahre Mikwe Friedberg 1260-2010?“ die Frage, ob das seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts angenommene Erbauungsjahr 1260 tatsächlich gesichert ist. Nachdem im 19. Jahrhundert die Bauzeit des Bades grob im 13. Jahrhundert angesetzt worden war, wies der Architekt Kratz 1902 auf eine bis dahin unbekannte Eingravierung auf einem Stein in einer der Wandnischen des Bades hin: „MCCLX“, die in der Folge als Beweis des Erbauungsjahres anerkannt wurde. Da anhand übereinstimmender Steinmetzzeichen geklärt ist, dass an der Friedberger Stadtkirche und in der Mikwe dieselben Steinmetze tätig waren, wurde auch für die Stadtkirche das Jahr 1260 als Baubeginn angenommen. Kögler begründet überzeugend, dass die Inschrift in der Mikwe nicht bereits im Mittelalter angebracht wurde. Sie wäre in der mittelalterlichen Inschriftenpraxis Friedbergs und seiner Umgebung eine große Ausnahme, zudem wäre angesichts der jüdischen Auftraggeber nicht eine Datierung der christlichen, sondern der jüdischen Zeitrechnung zu erwarten gewesen. Auch erscheine die nachlässige technische Ausführung der Inschrift nicht angemessen. Ob etwa die Inschrift von dem Architekten Kratz selbst stammt, lässt der Autor offen, obwohl gerade Kratz als erster eine Bauzeit der Mikwe „um 1260“ in zwei Aufsätzen ins Spiel gebrachte hatte. Kögler schlägt anhand kunsthistorischer Bewertung einen Baubeginn des Bades „um die Mitte des 13. Jahrhunderts“ vor. Im zweiten Beitrag „Garanten des Wohlstands“ gibt mit Hans-Helmut Hoos ein ausgewiesener Kenner einen Überblick über die Geschichte der Friedberger Judengemeinde im Mittelalter. Er legt insbesondere dar, dass deren Steuerlast und die für den Mikwenbau aufzuwendenden Kosten auf den Wohlstand ihrer Gemeinde, jedenfalls einer kleinen, vermögenden Schicht schließen lassen. Dieser Wohlstand wurde zwar aus Sicht der Nichtjuden auf ausbeuterisches Verhalten der Juden (Zinswucher, Wechselbetrug) zurückgeführt, jedoch weist Hoos darauf hin, dass der Wohlstand der ansässigen Juden nur dann allen in der Stadt zugutekommen konnte, wenn sie nicht ausgegrenzt wurden. Als im 13.Jahrhundert die Stadt noch prosperierte, habe zwischen ihren Bürgern und der Judengemeinde eine enge Verbundenheit bestanden. Dies werde dadurch bezeugt, dass für die Errichtung der Mikwe dieselbe Bauhütte beauftragt wurde, die zur gleichen Zeit die Stadtkirche erbaute. Nach der Auslöschung der Friedberger Judengemeinde in Folge der Pestunruhen (wahrscheinlich im Frühjahr 1349) sei es alsbald zur Neuansiedlung der Juden gekommen, weil man auf deren wirtschaftliches Know how, ihre internationalen Handelsbeziehungen und finanziellen Netzwerke angewiesen gewesen sei, um sich liquide Geldmittel und Steuereinnahmen zu sichern. Die mit dem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Stadt seit dem Ende des 14. Jahrhunderts einsetzende Ausgrenzung der Juden – durch den seit 1488 bestehenden Zwang, in der Judengasse zu wohnen, durch neue Handelsbeschränkungen – habe verhindert, dass die Juden wie bisher als Garanten des Wohlstands auch der Stadt hätten agieren können. Die Kunsthistorikerin Stefanie Fuchs betrachtet in Form eines Zwischenberichts zu ihrem Dissertationsvorhaben „Die Friedberger Mikwe im kunsthistorischen Vergleich“. Ihre Befunde – unterschiedliche Flächenbearbeitungen der verwendeten Steinquader im unteren und oberen Bereich, unterschiedlich zahlreiche Steinmetzzeichen, unterschiedliche Basisprofile der Freisäulen – deuten für die Autorin auf einen Werkstattwechsel oder eine Bauunterbrechung hin. Bisherige Erkenntnisse zu Übereinstimmungen von Säulenkonsolen und Säulenkapitellen mit Bearbeitungen in der Friedberger Stadtkirche bestätigt die Verfasserin. Unter den Steinmetzzeichen findet sie in der Friedberger Mikwe nur ein Kreuzzeichen, ein angebliches zweites Kreuz lasse sich heute nicht mehr nachprüfen. Demgegenüber gehörten Kreuze an anderen Bauten zu den geläufigsten Formen. Dies zeige, dass christliche Symbole vermieden wurden. Abschließend beschreibt die Autorin die Mikwen in Andernach und Offenburg bezüglich ihrer Übereinstimmungen und Unterschiede zur Friedberger Mikwe und erläutert den Diskussionsstand zum jeweiligen Alter der Bauwerke, wobei sie auch die Erwägungen zur nach wie vor ungeklärten Bauzeit des Offenburger Bades (13. bis 16. Jahrhundert) zusammenfasst. Katja Augustin, Kunsthistorikerin und frühere Leiterin des Friedberger Stadtarchivs, schildert in ihrem Beitrag „Vom Ritualbad zum Baudenkmal. Die Mikwe zu Friedberg im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ den Ablauf der Renovierungsmaßnahmen unter der Leitung des Architekten Kratz. Er wurde von der jüdischen Gemeinde beauftragt, die das Bauwerk 1892/1893 von dem zwischenzeitlichen privaten Eigentümer zurückerworben hatte. Dabei wurden in einer ersten Bauphase die Sicherungsarbeiten ausgeführt. Als vorrangige Ursachen für die Bauschäden ermittelte man eindringendes Oberflächenwasser, was letztlich u. a. durch Überbauung des Bades mit einem Wohnhaus als Schutzmaßnahme ausgeschaltet wurde. Zur Restaurierung als einer von Kratz geplanten zweiten Bauphase kam es mangels finanzieller Mittel nicht mehr. Über eine weitere Maßnahme im Jahre 1908 boten sich der Autorin nur wenige Mitteilungen an, sie konnte aber zumindest feststellen, dass es sich nicht um die Nachholung der 1903 nicht ausgeführten zweiten Bauphase handelte. Im Beitrag des Bauhistorikers Ernst Götz „Beobachtungen an der Friedberger Mikwe 1958-2019“ werden ähnlich wie in Augustins Aufsatz die Erhaltungs- und Renovierungsmaßnahmen der Jahre 1902/1903 und zusätzlich eine weiteren Renovierung 1957/1958 beschrieben. Zu der Frage, wer Urheber der als Datierung verstandenen Inschrift „MCCLX“ sein könnte, weist Götz darauf hin, dass dem damaligen Architekten Kratz die Einritzung nicht zuzutrauen sei, zumal sie so unkünstlerisch in einen Sandsteinquader eingeschlagen sei, wie Kratz sie nicht geduldet hätte. Stattdessen erwägt er, dass sich ein Handwerker den Spaß erlaubt habe, die Baudatierung nachträglich anzubringen. Um einen Zeitpunkt für den Bau der Mikwe festzustellen, zieht Götz Vergleiche mit künstlerisch gestalteten Bauteilen der Sakristei des Mainzer Doms, noch mehr aber des Kreuzgangs der Stiftskirche in Aschaffenburg (Blattkapitelle, Blattkonsole des Lettner-Ziboriums der Stadtkirche) und kommt zu dem Ergebnis, dass das Tiefbauwerk in der Friedberger Judengasse „knapp nach 1255“ zu bestimmen sei und man bei Hinzurechnung einer Bauzeit von zwei bis drei Jahren bei der traditionellen Fertigstellungsangabe „um 1260“ verbleiben könne. Der Geologe Enno Steindlberger gibt in seinem Beitrag „Untersuchungen der Schadensursachen und Beurteilung der Erhaltungsmaßnahmen an den Sandsteinen der Mikwe in Friedberg“ einen Überblick über die Ausbesserungen der Jahre 1902/1903, 1957/1958 und 2007/2008, die sowohl den Sandstein als auch den Putz und den Fugenmörtel sowie Ergänzungen von Fehlstellen im Stein betrafen. Weiter berichtet er über die seit 1991 erhobenen klimatischen Befunde und über die Salzbelastung an dem Bauwerk, die er neben dem offenen Grundwasserspiegel auf die Wechselwirkungen zwischen den zu Restaurierungszwecken eingebrachten modernen und den historischen Baumaterialien zurückführt. Insgesamt kann er aber aufgrund der letzten Restaurierungen und Umgestaltungen eine deutliche Stabilisierung der Klimasituation im Judenbad feststellen. Der letzte Beitrag des Geologen Michael Auras, des Dipl.Ing. Oliver Hahn und der Hochschullehrerin Karin Petersen (Fachgebiet Mikrobiologie in der Denkmalpflege) „Raumklimatische Bedingungen und mikrobielle Belastung der Wandoberflächen im Vergleich der Mikwen in Friedberg, Speyer und Worms“ wertet Untersuchungen aus, die in der Friedberger Mikwe angestellt wurden, um Erkenntnisse für die Renovierung der Wormser Mikwe zu erlangen. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass in Friedberg wegen des auf hohem Niveau nahezu konstanten Raumklimas die Wandoberflächen bei geringen Salzausblühungen häufig mit Kondenswasser bedeckt sind und die Schimmelpilzkonzentrationen im Toleranzbereich liegen. Insgesamt ist ein instruktiver, durch eine Vielzahl von – teils farbigen – Abbildungen und Skizzen ergänzter Band zur Baugeschichte der Friedberger Mikwe entstanden, der die Veröffentlichungen zur Friedberger Judengemeinde in den Wetterauer Geschichtsblättern der letzten beiden Jahrzehnte bereichert.

 

Bad Nauheim                                                             Reinhard Schartl