Simms, Brendan/Laderman, Charlie, Fünf Tage im Dezember -

Von Pearl Harbor bis zur Kriegserklärung Hitlers an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied, aus dem Englischen von Schmidt, Klaus-Dieter. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 638 S. Besprochen von Werner Augustinovic.. ZIER-HP 12 (2022) 70. IT

Vor nicht allzu langer Zeit überraschte der in Irland geborene, als Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge lehrende Historiker Brendan Simms in der deutschen Übersetzung seines voluminösen Werks „Hitler – Eine globale Biografie“ (2020) die Fachwelt mit einer neuen Interpretation der Triebkräfte des Diktators: Nicht die Antipathie gegen den Bolschewismus und die Sowjetunion hätte in erster Linie seine Gedankenwelt beherrscht, sondern vielmehr seine tiefe Abneigung gegen die angelsächsische Welt und deren von exponierten Vertretern des Judentums wesentlich beeinflusster Kapitalismus, woraus konsequent auch sein extremer Antisemitismus zu erklären sei. Während Hitler dem Despoten Stalin bisweilen sogar Bewunderung gezollt habe, galt sein ganzer Hass den von den Nationalsozialisten als Handlanger der „Plutokratie“ beschimpften demokratischen Staatsführern der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritanniens, Präsident Franklin D. Roosevelt und Premierminister Winston Churchill.

 

An diese zugespitzte Deutung knüpft der aktuelle Band, den Brendan Simms nun zusammen mit Charlie Laderman, Dozent für Internationale Geschichte am King’s College in London, verfasst hat, nahtlos an. „Fünf Tage im Dezember“ ist eine minutiöse Untersuchung der Geschehnisse zwischen dem japanischen Überfall auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und der daraus resultierenden Kriegserklärung Hitlers an die USA am 11. Dezember. Letztere, so verhängnisvoll sich dieser Schritt aus deutscher Sicht zwangsläufig auf den Kriegsverlauf auswirken musste, markierte den Verfassern zufolge „sowohl ideologisch als auch strategisch den Höhepunkt von Hitlers Laufbahn. Weder Ignoranz noch Unbekümmertheit hatten ihn dazu verleitet, den Konflikt mit dem mächtigsten Staat der Erde [zu] suchen, sondern die Überzeugung, dass die Konfrontation früher oder später unausweichlich war“ (S. 458).

 

Der seit dem Ersten Weltkrieg etablierten anglo-amerikanischen Hegemonie standen die (ab September 1940 im Dreimächtepakt verbundenen) selbst ernannten „Habenichtse“ Deutschland, Italien und Japan gegenüber. „Im Herbst 1937 wurde Hitler klar, dass sowohl London als auch Washington seine Ziele zutiefst missbilligten“, das Dritte Reich befand sich fortan „auf Kollisionskurs mit den ‚Besitzenden‘, […] die Berlin, Rom und Tokio […] den ihnen zustehenden Platz am Welttisch verweigerten“. Im Januar 1939 „verknüpfte Hitler […] die sich herausbildende globale Koalition gegen ihn mit der ‚jüdischen Frage‘. […] Im Grund nahm er die Juden als Geiseln“ (S. 38f.).

 

Zu dem in dem Band vorrangig behandelten Zeitraum im Dezember 1941 beherrschte die Hitler-Koalition zwar große Teile Europas, doch war die Eroberung Moskaus nicht geglückt und die deutsche Ostfront in eine gefährliche Krise geraten, eine vorläufige Stabilisierung konnte nur mit großer Anstrengung erreicht werden. Auf Seiten der Alliierten wurde die Last des Krieges von Großbritannien und der Sowjetunion getragen, ein Kriegseintritt der USA – in welcher Form auch immer – war ungewiss. Mit dem japanischen Angriff auf  Pearl Harbor wurde zwar Japan zum Kriegsgegner der Amerikaner, nicht jedoch automatisch auch Deutschland. Dass Hitler dann seinerseits den USA den Krieg erklärt habe, habe Roosevelt optimal in die Karten gespielt, dem so die problematische innenpolitische Durchsetzung einer wenig populären Entscheidung erspart geblieben sei.

 

Der hellsichtige amerikanische Präsident habe zwar früh das Deutsche Reich unter den Achsenmächten als Hauptgegner ausgemacht, doch sei er sich auch darüber im Klaren gewesen, dass ein Kriegseintritt der USA von einer starken antiinterventionistischen Strömung im Land, die sich im America First Committee auch einen institutionellen Rahmen zu verschaffen wusste, abgelehnt wurde und im Kongress kaum durchzusetzen sein würde. Unter Berufung auf die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten gelang es jedoch am 11. März 1941 das Leih-Pacht-Gesetz in Kraft zu setzen, auf dessen Basis umfassende amerikanische Militärhilfe in Form von Rüstungsgütern an Großbritannien und schließlich auch an die Sowjetunion fließen konnte, eine ohne Zweifel kriegs(mit)entscheidende Maßnahme. Diese Lieferungen, die militärisches Großgerät wie Panzer, Flugzeuge und Schiffe ebenso umfassten wie unverzichtbare Rohstoffe, waren für die Empfänger überlebensnotwendig und hätten sie erst in die Lage versetzt, der deutschen Kriegsmaschinerie Paroli zu bieten.

 

Gerade weil sich Hitler über den Wert dieser materiellen Unterstützung seiner Gegner keinen Illusionen hingegeben habe, hätte ihn der japanische Angriff auf die USA im Pazifik mit besonderen Hoffnungen erfüllt: Die Amerikaner würden jetzt ihr Kriegsgerät dort dringend selbst brauchen und das Leih-Pacht-System suspendieren, was die Wehrmacht sowohl gegenüber den Briten in Nordafrika als auch an der Ostfront wesentlich entlasten und die deutschen Erfolgschancen deutlich verbessern würde. Seine dahingehenden Hoffnungen hätten sich aber nur kurzfristig erfüllt, da US-Präsident Roosevelt sich des essentiellen Stellenwerts der Funktion seines Landes als „Arsenal der Demokratie“ nur zu gut bewusst gewesen sei. Die Friktionen im Ablauf der Leih-Pacht-Lieferungen waren nur kurzfristiger Natur, und nach Hitlers Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten präsentierte sich die Front seiner Gegner geschlossener denn je. Winston Churchill reiste in die USA, wo er drei Wochen lang mit Roosevelt ein gemeinsames Vorgehen erarbeitete und persönlich vor dem amerikanischen Kongress sprach. „Fünf Tage nach Churchills Rede, am letzten Tag des Jahres [1941], einigten sich die britischen und amerikanischen Stabschefs auf eine alliierte Gesamtstrategie“ mit der „Auffassung, dass Deutschland weiterhin der Hauptfeind und seine Niederlage der Schlüssel zum Sieg ist. […] Deshalb sollte […] nur ein Minimum von Kräften, die für die Sicherung vitaler Interessen auf anderen Kriegsschauplätzen nötig sind, von Operationen gegen Deutschland abgezogen werden“ (S. 512). Der gemeinsam von den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und China erstunterzeichneten, am Neujahrstag 1942 veröffentlichten und gegen die Achsenmächte gerichteten „Deklaration der Vereinten Nationen“ schlossen sich 22 weitere Länder an. Großbritannien und die Vereinigten Staaten bildeten in Washington ein Gemeinsames Generalstabskomitee und vereinbarten unter anderem, „dass die Kriegsproduktion beider Länder als gemeinsamer Pool behandelt und der Nachschub jeweils an die Truppen verteilt werden sollte, die in der besten Position waren, die Gesamtstrategie der Vereinten Nationen voranzubringen. […] Damit war klar, dass das Leih-Pacht-Programm nicht nur fortgesetzt, sondern erheblich ausgeweitet werden würde“ (S. 515). Im Gegensatz zu dieser engen effizienten Kooperation der Anglo-Amerikaner „arbeitete das Dritte Reich […] nie eine ausgefeilte gemeinsame Strategie mit seinen Achsenpartnern aus“ (S. 521). Zwar schien noch Anfang 1942 „trotz der gewaltigen industriellen Überlegenheit der Alliierten der Ausgang des Krieges immer noch ungewiss zu sein“, doch „in Wirklichkeit pfiffen die Deutschen und die Japaner auf dem letzten Loch. Ihre Industrie- und Rohstoffreservoirs waren viel zu leer, um den so dringend benötigten entscheidenden Sieg erringen zu können. Im Frühsommer kam der Vormarsch der Achse ins Stocken, und im Herbst kam er endgültig zum Stehen. […] Der ‚Krieg der Motoren‘, von dem Stalin gesprochen hatte, wurde, genau, wie er es vorausgesagt hatte, von der amerikanischen Industrie gewonnen“ (S. 530f.). Bei Kriegsende hätte „Schätzungen zufolge, die Hälfte der Fahrzeuge der Roten Armee aus amerikanischer Produktion“ gestammt (S. 533).

 

Die einschneidende historische Bedeutung, die gemeinhin mit dem Ereignis Pearl Harbor assoziiert werde, stehe somit nach Ansicht der Verfasser in Wahrheit „Hitlers Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten [zu], die eine neue globale strategische Realität und letztlich eine neue Welt schuf“ (S. 485). Denn „die Welt vom August 1945 war nur eine von mehreren, die im Dezember 1941 möglich erschienen waren“, seien doch damals „viele alternative Entwicklungen diskutiert“ worden, deren Realisierung jeweils „1945 eine völlig andere Welt hervorgebracht“ hätte (S. 538). Hitlers Schritt habe diesen Optionen dann ihre Grundlage endgültig entzogen. Nicht Unwissenheit um Amerikas Potential oder Ignoranz hätten ihn dabei geleitet, sondern „Ende 1941 sah er ein schmales Fenster der Gelegenheit, die Vereinigten Staaten nicht direkt zu besiegen, sondern einen autarken Achsenblock zu schaffen, der stark genug war, um ihnen zu widerstehen. Andernfalls, glaubte er, würde Deutschland Gefahr laufen, nach und nach erstickt zu werden“ (S. 541).

 

Im Mittelpunkt der Darstellung „stehen vorwiegend die Kraftzentren der Ereignisse, einerseits die Schlachtfronten, aber auch die politischen Winkelzüge und die Schlagzeilen, die von den Staatsführern, der Presse, dem Militär und der breiten Öffentlichkeit in den Hauptstädten der Welt produziert und rezipiert wurden“ (S. 17). Dieser multiperspektivische Ansatz, der unter anderem immer wieder das Misstrauen erkennen lässt, das auf gegensätzliche Interessen zurückzuführen war und die Einigung zwischen allen verbündeten Mächten immer wieder erschwerte (so missfiel Roosevelt grundsätzlich der britische Imperialismus, während er von Churchill nicht ganz zu Unrecht verdächtigt wurde, er wolle die Vereinigten Staaten aus dem militärischen Konflikt heraushalten und den Briten den gesamten Blutzoll auferlegen; Mussolini misstraute der steigenden Macht der Deutschen in Europa, und die Japaner wiederum Hitler, um dessen Rassismus sie wussten und dessen Ermunterungen, auch die Sowjetunion anzugreifen und in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln, sie klug ignorierten), illustriert und entwirrt die vielfältigen Netzwerke der Macht, erfordert vom Leser aber auch viel Konzentration beim Nachvollziehen der permanenten Standortwechsel. Wer sich der Mühe unterzieht, wird mit intimen Einblicken in die verschlungenen Wege der Diplomatie belohnt. Wie ein roter Faden wird das Schicksal der Juden Europas immer wieder thematisiert, da es mit den gegenständlichen Ereignissen in einem engen Kausalzusammenhang stehe. Wie schon in seiner berüchtigten Rede vom Januar 1939 angekündigt, habe sich Hitler nach seiner den Weltkrieg de facto festschreibenden Kriegserklärung an die Amerikaner nach Kräften bemüht, auch den bisher von der Vernichtung noch verschont gebliebenen und nun als Geiseln wertlos gewordenen mittel- und westeuropäischen Juden das Schicksal ihrer größtenteils bereits ermordeten osteuropäischen Glaubensgenossen zu bereiten. Die Thesen dieser präzise gearbeiteten, auf der Berücksichtigung bisher wenig beachteter Quellen fußenden Studie bereichern die bisherigen Erkenntnisse der Forschung zum Zweiten Weltkrieg und zeigen einmal mehr, dass trotz zahlreicher überzeugender Interpretationen auch in grundlegenden Fragen ein endgültiges Wort noch nicht gesprochen ist.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic