Evans, Richard J[ohn], Tod in Hamburg.

Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, aus dem Engl. v. Klewer, Karl A. Pantheon, München 2022. 928 S., 36 Abb., 40 Kart., 9 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 12 (2022) 62 IT

Die Faszination von Geschichtsforschung besteht im Wesentlichen darin, dass jeder Blick zurück in die Vergangenheit immer zugleich unsere Wahrnehmung der Gegenwart verändert. Bereits 1987 hat Richard J. Evans die vorliegende Publikation in englischer, drei Jahre später auch in deutscher Sprache vorgelegt. Die gegenwärtige Corona-Pandemie hat ihn veranlasst, sein um ein aktuelles Vorwort vermehrtes Werk nach dreieinhalb Jahrzehnten dem interessierten Publikum ein weiteres Mal zu präsentieren. Es ist anzunehmen, dass die akribische Schrift, bedingt durch ein allgemein gesteigertes Interesse der Bevölkerung an epidemiologischen Phänomenen, nun jene breitere Rezeption erfahren könnte, die sie nach Ansicht des Rezensenten verdient.

 

„Tod in Hamburg“ ist keine isolierte Medizingeschichte der Cholera im 19. Jahrhundert, sondern eine breit angelegte sozialgeschichtliche Analyse der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen im Hamburg jener Jahrzehnte, welche die Parameter um Entstehung, Bekämpfung und Folgewirkungen der Seuche bestimmten und mittelfristig zum entscheidenden Treiber politischer Veränderungen wurden. Aussagekräftig ist der Umstand, dass die Cholera erst auf S. 342 (der insgesamt 825 Seiten laufenden Textes) in das Zentrum der Darstellung rückt. Vorher werden dem Leser in ausführlichen Kapiteln Aufbau und Funktion der Verfassung des republikanischen Stadtstaates und selbständigen Bundesstaates Hamburg im Rahmen des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreichs sowie die gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der mit gravierenden Folgen für die Umwelt und die Lebensbedingungen der Menschen einhergehenden Industrialisierung ausführlich erläutert und eindrucksvoll dargelegt.

 

Fußend auf dem sogenannten Hamburger Hauptrezess von 1712, wurde 1860 eine neue Verfassung verabschiedet, die mit diversen Modifikationen „im wesentlichen bis 1918 in Kraft“ blieb. „Senat und Bürgerschaft teilten sich die oberste Gewalt in der Stadt, alle Gesetze mußten von beiden bewilligt werden“ (S. 44). Die untereinander versippten, „reichsten und gesellschaftlich angesehensten Kaufmannsfamilien“ (S. 46) stellten in aller Regel die aus der Bürgerschaft auf Lebenszeit gewählten Senatoren, wobei die Kaufleute im Senat ihren Senatorenkollegen mit einer (obligatorischen) juristischen Ausbildung „in keiner Weise gewachsen“ gewesen seien (S. 49). Zur (Erbgesessenen) Bürgerschaft gehörte, wer männlich war, innerhalb der Stadt Grund und Boden und darüber hinaus ein freies Vermögen von mindestens 3000 Mark besaß. Außerdem hatten Bürger einmalig das Bürgergeld, eine beträchtliche Summe, zu entrichten. Die in die Bürgerschaft gewählten Abgeordneten gehörten den drei „Fraktionen des Kapitals“ an, die sich in eine „Linke“ (großteils Grundeigentümer), eine Rechte (Großbürgertum) und ein – verschiedene Gruppen vereinigendes – „Linkes Zentrum“ gliederten. Diesen Besitzenden stand eine wachsende Masse von weitgehend mittellosen Arbeitern ohne politische Teilhabe gegenüber. Eine organisierte Arbeiterbewegung begann sich in Hamburg erst in den 1860er-Jahren zu formieren. „Während des Aufstiegs […] spielten lokale Probleme keine große Rolle, die Arbeiterbewegung orientierte sich an Zielen, die auf Reichsebene zu verwirklichen waren. […] Bedingt durch ein eingeschränktes Wahlrecht blieb in Hamburg wie in den übrigen deutschen Städten die Teilhabe am politischen Leben der Gemeinde der kleinen Elite von Grundeigentümern vorbehalten; die Arbeiterklasse war nahezu überall vom Wahlrecht ausgeschlossen“ (S. 138). In bestimmten Bezirken der Stadt, den berüchtigten „Gängevierteln“, hausten die Ärmsten und ihre Familien schlecht und unzureichend ernährt, ohne Licht, Luft und sauberes Wasser, geplagt von Ungeziefer und ohne den geringsten sanitären Standard in beengten Verhältnissen.

 

Das vorrangige Interesse der liberalen politischen Führung Hamburgs sei stets die Gewährleistung des ungestörten Ganges der Geschäfte gewesen. Vor allem Maßnahmen, die den ertragreichen Handel beeinträchtigten, waren so wenig populär. Einer ersten Cholera-Epidemie in Hamburg 1831/1832 begegnete man noch einigermaßen energisch, doch in den folgenden Jahrzehnten zeigte man sich immer zurückhaltender in der Seuchenbekämpfung. So „(begründeten) die Epidemien von 1832 und 1848 im Ergebnis also eine feste Tradition in Hamburg, der zufolge der Staat praktisch nichts zur Verhütung oder Bekämpfung der Cholera unternahm und auch nichts in die Wege leitete, um ihr Auftreten in der Stadt anzukündigen oder zu bestätigen“ (S. 377). 1892 bescherten diese Versäumnisse der Hansestadt einen exklusiven Cholera-Ausbruch, der die Dysfunktionalität ihres politischen Systems offen zutage treten ließ.

 

In diesem Zusammenhang offenbare sich zudem die Vernetzung von medizinischer Theorie und politischer Ideologie. In der Medizin herrschte damals ein Wettstreit zwischen Anhängern der Miasmatheorie, prominent vertreten in Gestalt Max von Pettenkofers, der zufolge Krankheiten durch in der Atmosphäre oder in Ausdünstungen des Bodens enthaltene Stoffe ausgelöst würden, und den Vertretern des Kontagionismus, die an die Existenz ansteckender, durch Kontakt von Mensch zu Mensch übertragbarer Stoffe glaubten, wie ihn der von Robert Koch schließlich gefundene bakterielle Erreger der Cholera darstellt. Der ursprünglich große Einfluss der Miasmatheorie Pettenkofers kam dabei dem Hamburger Bestreben, republikanisch-partikularistische Interessen zu pflegen und möglichst wenig aktiv in das Seuchengeschehen einzugreifen, ideal entgegen, denn gemäß dieser Lehre gab es mit der Ausnahme eines Ortswechsels „für den einzelnen keine Möglichkeit, sich zu schützen“ (S. 350), wodurch Quarantänebestimmungen, Maßnahmen zur Desinfizierung und zur Isolierung der Kranken überflüssig erschienen. Die sich als zutreffend erweisende, anfangs auch in der Ärzteschaft häufig angezweifelte Überzeugung Kochs, die Cholera sei eine durch ein Bakterium übertragbare Infektionskrankheit, erforderte hingegen gerade diese Schritte, war somit „ihrem Wesen nach zentralistisch“ und arbeitete dem regulatorischen Interesse des preußisch dominierten monarchischen Nationalstaates zu. Sie brachte eine „zentrale Koordinierung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit und ihrer Ausbreitung“ mit sich und damit eine Gefährdung der in Hamburg so hoch geschätzten und zäh verteidigten Eigenständigkeit (S. 407).

 

Um die Trägheit der Hamburger politischen Institutionen zu überwinden, bedurfte es bisweilen eines außergewöhnlichen Anstoßes, wie jenen des Großen Brandes von 1842, der weiter reichende Auswirkungen auf den Wohnbau, das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung zeitigte. Paradoxer Weise war es dann der Bau einer zentralen Wasserversorgung, der 1892 die Ausbreitung der Cholera stark begünstigte, denn das moderne Projekt wurde nur unzureichend realisiert, indem man den Einbau einer aus hygienischer Sicht obligatorischen Sandfilteranlage lange verschleppte und in der Folge den Haushalten verseuchtes Wasser lieferte. Wasser als Ansteckungsquelle war für die Mehrzahl der Cholera-Todesfälle verantwortlich: So erlagen vor allem an der Elbe beschäftigte Männer, die häufig Wasser direkt aus dem Fluss tranken, wie Schiffer und Hafenarbeiter, der Epidemie, während Frauen überwiegend durch die Arbeit im Haushalt infiziert wurden. Kaum ungewöhnlich ist der Befund, dass die Mortalität bei Kleinkindern unter zwei Jahren und bei älteren Personen über 60 am höchsten gewesen sein dürfte und die vorwiegend von der Arbeiterschaft bewohnten Stadtviertel aufgrund ihrer ungünstigen Wohnverhältnisse von der Seuche stärker in Mitleidenschaft gezogen wurden als die Villenkolonien der Wohlhabenden.

 

Die Cholerawelle von 1892 „fiel als letzte Sumpfblüte des Zeitalters der Epidemien in eine Epoche, in welcher der von Koch und der Bakteriologie ausgehende erzieherische Einfluß bereits eine beachtliche Wirkung auf die öffentliche Meinung entfaltet hatte. […] So übernahmen politische Aktivisten aller Schattierungen rasch Kochs Theorie, die Cholera gehe auf ungefiltertes Wasser, ungünstige Wohnverhältnisse und mangelhafte sanitäre Einrichtungen zurück. Diese Diagnose verknüpften sie mit der Frage der gesellschaftlichen Ungleichheit und mit dem Fehlen einer auf eine Verfassung gestützten Demokratie und schoben die Schuld dem Staat zu. Der Schock der Cholera führte 1892 weit stärker als bei früheren Epidemien zu massivem Druck mit dem Ziel einer gesellschaftlichen und politischen Reform – und auf diesen Druck mußten Hamburgs dominierende Klassen reagieren“ (S. 697). Die Verfassungsreform von 1896, mit der das Bürgergeld abgeschafft und das (Männer-)Wahlrecht deutlich ausgeweitet wurde, ohne dabei den Sozialdemokraten zu viel Spielraum einzuräumen, und „in Hamburg das Berufsbeamtentum für den höheren Verwaltungsdienst nach preußischem Muster ein[geführt wurde]“, war dann „eine der wenigen echten Reformen […], die ihre Existenz der Cholera-Epidemie von 1892 verdankten“ (S. 790ff.). 1905 errangen die Sozialdemokraten bei den allgemeinen Bürgerschaftswahlen bereits 38% der Stimmen und stellten zwölf Bürgerschaftsabgeordnete. Somit habe die „wahre Bedeutung der Epidemie von 1892“ auf dem Gebiet der Politik gelegen: „Hamburgs Regierungssystem wurde von der öffentlichen Meinung am Ort, im Reich und selbst im Ausland 1892 gewogen und für zu leicht befunden. Nicht dem Laisser-faire-Staat galt letztlich das Urteil, sondern dem Herrschaftssystem, der Macht, die in der Stadt von den Notabeln über Exekutive, Legislative und die Verwaltung ausgeübt wurde. Dementsprechend bestanden die wichtigsten Folgen der Epidemie weniger in einer Zunahme staatlicher Eingriffe in die Gesellschaft im Namen einer Reform des Sanitär- und Gesundheitswesens, als vielmehr darin, daß sie das alte System der Honoratiorenpolitik unterminierte. Binnen vier Jahren kam es zu Reformen, die das Ende der alten Amateur-Regierung und der ‚unpolitischen Politik‘ einläuteten, welche so lange die Geschicke der Stadt gelenkt hatten, und schon nach eineinhalb Jahrzehnten war die politische Szene der Stadt nicht mehr wiederzuerkennen“ (S. 821). Ein 1892 von Robert Koch zur Beratung gebrachtes Reichsseuchengesetz trat hingegen lange hinter andere Materien zurück und erlangte erst im Jahr 1900 „als Abfallprodukt wilhelminischer ‚Weltpolitik‘“ zum Zweck der präventiven Abwehr der aus dem Mittleren Osten drohenden Beulenpest doch noch Gesetzeskraft (S. 730).

 

Seine sorgfältig erarbeitete, noch in der „alten“ Orthographie erstellte Darstellung stützt Richard J. Evans auf eine beeindruckende Zahl archivalischer Quellen überwiegend aus Beständen des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg. Die umfangreichen statistischen Auswertungen – etwa zur sozialen Dislokation oder zur Cholerasterblichkeit – gehen mitunter sehr ins Detail. Das aussagekräftige zeitgenössische Bildmaterial – maßgebende Persönlichkeiten aus der damaligen Politik Hamburgs wie Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg, die Senatoren Gerhard Hachmann und Johannes Versmann sowie der Erste Vorsitzende des einflussreichen Grundeigentümer-Vereins Heinrich Gieschen, dazu Mediziner wie Max von Pettenkofer und Robert Koch, der Ingenieur William Lindley als Vater der Hamburger Zentralwasserversorgung und Pastor Friedrich Werner; ferner Aufnahmen aus Hamburger Stadtvierteln mitsamt der dort umgesetzten Seuchenbekämpfungsmaßnahmen – ist in der Mitte des Bandes zu einem Block zusammengefasst und auf hochwertiges Glanzpapier gedruckt. Für besonders wertvoll hält der Rezensent das ausführliche Sachregister, ohne das es unmöglich wäre, in den über 900 Seiten der voluminösen Arbeit stets jene Informationen rasch anzufinden, die jeweils gefragt sind.

 

Assoziationen zu Vorgängen während der aktuellen Corona-Pandemie drängen sich beim Studium des Verhaltens der Menschen im Angesicht der epidemischen Herausforderungen im 19. Jahrhundert immer wieder auf. Man begegnet schon damals neben dem seriösen, wissenschaftlich abgesicherten Wissen eklatanten Informationsmängeln, Impfverweigerern, Fatalisten, Verschwörungstheoretikern, tätlichen Angriffen auf Apotheker und medizinisches Personal, Ärzten mit sonderbaren Ansichten, lebensgefährlichen Methoden der Behandlung, quacksalberischen Geschäftemachern und vielem anderen dergleichen mehr. Das von Richard J. Evans so plastisch dargelegte Grundproblem, nämlich die Kollision wirtschaftlicher und politischer Interessen mit den Notwendigkeiten eines wirksamen Krisenmanagements, ist in der gegenwärtigen Pandemie nicht weniger greifbar als im Hamburg der Cholera-Jahre.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic