Südslawisches Wien.

Zur Sichtbarkeit und Präsenz südslawischer Sprachen und Kulturen im Wien der Gegenwart, hg. v. Jakiša, Miranda/Tyran, Katharina. Böhlau, Wien 2022. 359 S., Abb., Tab. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 13 (2023) 00. IT

Wenn die Rede auf die slawische Prägung Wiens kommt, wird man in erster Linie an die Tschechen denken, die, vorwiegend schon zu Zeiten der Donaumonarchie als Arbeitskräfte zugezogen, dort in großer Zahl ansässig geworden sind und sich assimiliert haben, sodass ein Blick auf die im Wiener Telefonbuch verzeichneten Namen bei mehr als einem Drittel der niedergelassenen Bevölkerung der österreichischen Bundeshauptstadt tschecho-slowakische Wurzeln erkennen lasse. Als hinreichend präsent darf auch das Wissen um die Existenz der anerkannten autochthonen südslawischen Minderheiten in Österreich, der Kärntner Slowenen und der Burgenländer Kroaten, angenommen werden. Weit weniger ist hingegen in der breiten Öffentlichkeit bekannt, dass Wien mittlerweile auch zum Zentrum einer beachtlichen, aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien migrierten Diaspora geworden ist. Schon 2016  berichtete der „Standard“ unter dem Titel „Beč, das Herz des Balkans“: „Die österreichische Hauptstadt ist zweifelsohne auch die größte balkanesische Stadt außerhalb des Balkans. 99.000 Wiener haben in der ersten Generation serbische, 40.000 bosnische und 26.000 kroatische Wurzeln. Nimmt man noch die zweite und dritte Generation hinzu, liegt die Zahl der balkanstämmigen Personen in Wien noch deutlich höher“. Um die Präsenz dieser Südslawen und ihre Verankerung in Wien näher vorzustellen, haben die Universitätsprofessorin für Südslawische Literatur- und Kulturwissenschaft, Miranda Jakiša, und die Universitätsassistentin für slawische Philologie, Katharina Tyran, beide tätig am Institut für Slawistik der Universität Wien, diesen Sammelband mit Hilfe von Fördermitteln der Stadt Wien, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft realisiert. 16 weibliche bei nur vier männlichen Verfassern lassen gemäß dem Autorenverzeichnis ein – sprachlich dem moderaten Gendern verpflichtetes – Projekt erkennen, das zum überwiegenden Teil auf der Expertise von Frauen aufbaut. Einer Einleitung der Herausgeberinnen folgend, verteilen sich die insgesamt 16 Beiträge gleichmäßig auf insgesamt fünf Themenfelder: Südslawische Kulturräume in Wien: Performative Arenen der Sichtbarkeit (3), Orte des Austauschs: Südslawische Präsenz in Wien (3), Mediale Bilder und literarische Perspektiven: Schreiben von und über Südslaw*innen in Wien (3), Südslawische Migrationen, Erinnerungen, Identitäten: Ankommen in Wien (3) und Sprachliche Präsenz des Südslawischen: Wien, Oida! Beč, Oida! (4).

 

Der Ansatz des Bandes ist im weiten Sinne kulturwissenschaftlich, Sprache und Literatur, Theater und Musik, Organisationen, Unternehmen und Veranstaltungen der südslawischen Bevölkerungsgruppen, Ausstellungen, ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum schlechthin und ihre mediale Gegenwart sowie ihre Eigen- und die Fremdwahrnehmung in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft sind zentrale Bereiche der Erörterung. Dabei wurde den Verfasserinnen und Verfassern entsprechend Freiraum gelassen, ihre Beiträge wurden inhaltlich nicht harmonisiert. Die Einleitung der Herausgeberinnen bemüht sich daher, hier eine integrierende Verklammerung vorzunehmen.

 

Zahlenmäßig dominieren im südslawischen Wien heute Serben, Bosnier und Kroaten (weniger Montenegriner) mit ihrer im Kern gemeinsamen Sprache (das Auseinanderdividieren durch die Inanspruchnahme der Exklusivität regionaler Varietäten ist im Wesentlichen die Agenda der Nationalisten in allen Lagern), doch beschäftigen sich einzelne Artikel auch mit den kleineren Gruppen der Slowenen, mit den Nordmazedoniern und den Roma. Obwohl „die wechselseitige südslawisch-wienerische Geschichte weit zurückreicht, steht im Fokus dieses Buches […] ganz dezidiert die Wiener südslawische Gegenwart“ (S. 10). Die größten Wellen der südslawischen Zuwanderung bildeten die Arbeitsmigration ab den 1960er-Jahren (sogenannte Gastarbeiter) sowie die „mehr als 100.000 Flüchtlinge( ) aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo […], die im Verlauf der 1990er Jahre nach Österreich flüchteten, wobei die größte Gruppe, nämlich 90.000, aus Bosnien und Herzegowina stammte. Rund 60.000 der aus Bosnien Geflüchteten blieben dauerhaft in Österreich. […] Familienangehörige, Verwandte und Freund*innen, die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten in Österreich lebten, leisteten den Hauptanteil bei der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten, gefolgt von Pfarren und österreichischen Familien und Einzelpersonen“ (S. 209). Im offiziellen österreichischen Narrativ dominieren daher „bestimmte Topoi, die das Bild einer ,Erfolgsgeschichte‘ vermitteln“ (S. 211), aber die oft diskriminierenden individuellen Erfahrungen der Betroffenen wohlweislich außen vor lassen. Die in Österreich real herrschenden Machtverhältnisse werden in Interviews mit südslawischen Migranten offenbar, wonach man – wenn auch im Vergleich mit anderen Migranten, „die viel Schlimmeres erlebt haben“, gefühlt besser gestellt – „in Österreich ‚als Bürger zweiten Ranges‘ betrachtet wird, dass sich Österreicher*innen selbstverständlich ‚über die Anderen stellen‘, dass die österreichische Gesellschaft ‚gar nicht freundlich gegenüber den Fremden‘ sei und dass ‚du nicht auf Augenhöhe betrachtet wirst‘. Es wurde berichtet, dass ‚die Spielregeln hier schon gesetzt sind‘ und dass ‚es klar ist, wer die Österreicher und wer Nicht-Österreicher sind, wer wie lebt und wer welche Möglichkeiten hat und wer welche Behandlung bekommt‘“ (S. 235). Wer sich in der Breite der österreichischen Alltagsgesellschaft bewegt, kann die erstaunliche Exaktheit dieser ernüchternden Befunde nur bestätigen.

 

Dessen ungeachtet ließen sich in Wien interessante emanzipatorische Beobachtungen machen. So würden die lange pejorativ konnotierten Bezeichnungen „Tschusch“ und „Jugo“ vermehrt von Vertretern der südslawischen Community aufgegriffen, um mit einem gewissen Stolz ihre exklusiv mit Wien verbundene, spezifische Identität zum Ausdruck zu bringen, frei nach dem „Tschuschen-Rapper“ Petar Rosandić alias Kid Pex, der selbstbewusst textet: „Keep it Jugo // do it Švabo // ein Wiener, ein Tschusch und ein Babo“ (S. 35). Dem ließe sich laut Miranda Jakiša „enthusiastisch hinzufügen, dass Migrant*innen und Jugos nirgends sonst überhaupt ‚Tschusch*innen‘ sind – nur in Wien!“ (S. 46). Nicht wenige der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Bürger Wiens hätten darüber hinaus einen offeneren, weit weniger nationalistischen Blick auf die Verhältnisse in ihrer ehemaligen Heimat entwickelt als ihre in den heutigen Nachfolgestaaten ansässigen Landsleute, was Wien zur „Jugo-Hauptstadt“ mache, also zum Kristallisationspunkt der „Identifizierung mit Jugoslawien und [einer] Jugonostalgie“, der es „meistens nicht um einen Wunsch nach Rekonstruktion des jugoslawischen Staates“ gehe, sondern die „komplexe Positionierungen“ beinhalte, „die mit großen Verlusten, mit Nationalismus und Krieg, mit deprimierenden Zuständen postjugoslawischer ‚transitorischer‘ Gesellschaften und nicht zuletzt mit bestehenden Machtverhältnissen in der Diaspora zusammenhängen“ (S. 241). Ein prominenter Exponent einer derart reflektierten, Orientierung schaffenden Jugonostalgie sei der 1993 aus Sarajevo zugezogene Miroslav Prstojević, der in seiner weit über Österreichs Grenzen hinaus bekannten Buchhandlung mit dem programmatischen Namen „Mi“ (= „Wir“) Titel aus (fast) dem gesamten ehemaligen jugoslawischen Raum führt, aber extremistische und chauvinistische Schriften nach kritischer persönlicher Begutachtung ganz bewusst aus seinem Sortiment verbannt, der, nach seiner Sprache gefragt, von „unsere(r) Sprache“ und von seinem ethnisch durchaus heterogenen Publikum als von „unsere(n) Leute(n)“ spricht (S. 154) und im besten Sinn begreifbar mache, „was Postjugoslawismus sein könnte“ (S. 150).

 

Die Beiträge vermitteln so insgesamt das Bild einer toleranten und selbstbewussten Kultur eigener Prägung, in der das Bekenntnis zum Wienerischen mit der südslawischen Identität der alten Heimat zu einer spezifischen Entität verschmolzen ist, auf die man sich heute vor allem in der jüngeren Generation der Migranten und ihrer Nachkommen oft mit Stolz beruft und in der der Muttersprache der Vorfahren weiterhin eine fundamentale Bedeutung zukommt. Die Sympathie, die die Verfasserinnen und Verfasser diesem Prozess entgegenbringen, ist in den Beiträgen stets präsent und mag (mit)verantwortlich dafür sein, dass man bisweilen den Eindruck hat, der Band bringe eine zu optimistische Wahrnehmung zum Ausdruck, die kritischen Phänomenen zu wenig nachgeht. Hier wäre ein Seitenblick auf jene, die sich dem explizierten Muster verweigern, keinen Weg in die österreichische Gesellschaft suchen oder finden, die den jeweils eigenen Nationalismus – gerade auch via sprachliche Separation – über das Gemeinsame stellen, hilfreich gewesen – gibt es auch solche Bestrebungen, und wie bedeutsam ist die Zahl ihrer Protagonisten im Verhältnis zu jenen, deren gelungene Integration (nicht Assimilation) der Sammelband zelebriert? Aus rechtshistorischer Sicht wäre nach den Wechselwirkungen südslawischer Migration und der Entwicklung des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts zu fragen (gibt es solche und wenn ja, welche und mit welchen Folgewirkungen?), doch zugegebenermaßen fällt ein solches Interesse nicht in die Expertise, mit der die Gestalterinnen und Gestalter dieser erhellenden Publikation an ihr im Hinblick auf die Transformation der österreichischen Gesellschaft bedeutsames Sujet herangetreten sind.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic