Pöhlmann, Markus, Geheimnis und Sicherheit. Der Aufstieg militärischer Nachrichtendienste in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1871 – 1914 (= Zeitalter der Weltkriege 26).
De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2024. 255 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Der Historiker Markus Pöhlmann, Jahrgang 1967, wurde im Jahr 2000 bei Stig Förster in Bern promoviert und 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam habilitiert. Seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Potsdam, bekleidet er heute die Position eines Leitenden Wissenschaftlichen Direktors für den Forschungsbereich „Einsatz“ an dieser 2013 in das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) überführten Einrichtung. Bereits 2005 und verstärkt ab 2016 ist er mit Publikationen zum Thema militärische Nachrichtendienste an die Öffentlichkeit getreten, unter anderem als Mitherausgeber der Aufzeichnungen von Oberst Walter Nicolai, Chef des deutschen militärischen Nachrichtendienstes (Sektion IIIb im Großen Generalstab) während des Ersten Weltkriegs. Diese über Jahrzehnte erworbene, spezifische Expertise Markus Pöhlmanns hat nun in dem vorliegenden Band, der sich mit der Entstehung eines institutionalisierten militärischen Nachrichtenwesens im Deutschen Reich, in Frankreich und in Großbritannien zwischen 1871 und 1914 in komparativer Zusammenschau befasst, einen weiteren Ausdruck gefunden. Die aktuelle Studie gliedert sich inhaltlich in vier Abschnitte (Einführung, Rahmenbedingungen, Organisationen, Operationen) und eine resümierende Schlussbetrachtung.
Erklärte Absicht Pöhlmanns ist es, „an sich gut untersuchte, dabei aber auf den ersten Blick disparat erscheinende Forschungserträge zu bedeutenden gesellschaftlichen Basisprozessen des 19. Jahrhunderts – Verwissenschaftlichung, Technisierung und Sicherheit – zusammenzuführen und sie konsequent auf die Prähistorie des militärischen Nachrichtenwesens anzuwenden. Damit soll ein Beitrag zur Überwindung der anhaltenden Selbstbezogenheit und damit Selbstbeschränkung einer Geschichte der Nachrichtendienste geleistet werden“ (S. 26). Unter Verzicht auf eine strikte Theorieanbindung werden für den trilateralen Vergleich die theoretisch-methodischen Zugänge verschiedener Disziplinen der Geschichtswissenschaft in Anspruch genommen. Die Beschränkung der Untersuchung auf die drei genannten Mächte Mittel- und Westeuropas (ohne Überseegebiete und konzentriert auf die Landstreitkräfte) begründet der Verfasser mit der Annahme, dass die Erhellung der Genese eines „all-source intelligence“-Systems nicht unbedingt eine Gesamtdarstellung des militärischen Nachrichtenwesens in ganz Europa erfordere, sodass es vertretbar sei, mit Rücksicht auf die Ökonomie das – in den Grundlagen erst rudimentär erforschte – Nachrichtenwesen Russlands ebenso wie jenes der Donaumonarchie auszuklammern.
In einem ersten, einführenden Abschnitt werden die unterschiedlichen Begrifflichkeiten des geheimdienstlichen Feldes erörtert und definiert sowie die politischen und militärischen Rahmenbedingungen grob abgesteckt. Als Hauptbegriffe erscheinen Nachrichtenwesen (dt.), Renseignements (frz.) und Intelligence (engl.), mit der Gemeinsamkeit, dass jeweils institutionalisierte Formen des staatlichen Wissensmanagements mit dem Alleinstellungsmerkmal des Geheimen und einer voll ausgeprägten Organisation in der besonderen militärischen Arbeitsumgebung von Krieg und Frieden angesprochen werden. Für die vorliegende Studie wird, davon abgeleitet, die folgende Arbeitsdefinition vorgeschlagen: „‘Nachrichtenwesen‘ bezeichnet klandestines staatliches Wissensmanagement in den Bereichen der äußeren und inneren Sicherheit. ‚Militärisches Nachrichtenwesen‘ bezeichnet klandestines Wissensmanagement in den Streitkräften“ (S. 7). Unter dem Dach dieser Überbegriffe existiert ein weites Feld je eigens spezifizierbarer Subterminologien, so zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit (Rekognoszierung, Aufklärung, reconnaissance, renseignements, exploration) und zu den Akteuren (Agent, Reiseagent, Korrespondent, Spannungsreisender, Unterbrechungsagent, Spion, Kundschafter, scout, V-Mann, agent sédentaire, correspondent, head agent). Interessant sei, dass der Begriff der Information als Quellenbegriff nur im Französischen und Englischen verankert sei, während im Deutschen stets von „Nachrichten“ oder „Erkenntnissen“ die Rede sei. Der geheime Charakter des Metiers finde seinen Ausdruck in einer Tendenz zur sprachlichen Tarnung, wenn beispielsweise der militärische Nachrichtendienst in Frankreich offiziell unter der Bezeichnung Section de statistique auftritt. Als konstitutive Rahmenbedingungen für die Etablierung des militärischen Nachrichtenwesens identifiziert Markus Pöhlmann bestimmte Räume und Raumbilder, die jeweilige politische Kultur des Landes, Wissen als Fähigkeit zum sozialen Handeln, die zivil-militärischen Verhältnisse im Sicherheitsbereich und die Binnenverhältnisse des Militärs. Das militärische Nachrichtenwesen füge sich dabei als informationeller Akteur in das allgemeine Bestreben des Staates, Informationen zu gewinnen („Verdichtung von Staatlichkeit“ nach Jürgen Osterhammel), in der Gesellschaft fungiere Wissen als eine zentrale Ressource für die Schaffung und den Erhalt von Sicherheit. Der Verfasser bemüht dabei einen konstruktivistischen Sicherheitsbegriff, demzufolge Sicherheit das Ergebnis interessensgesteuerter Aushandlungen darstellt. Somit sei die Ausbildung des militärischen Nachrichtenwesens zwischen 1871 und 1914 als das Produkt eines Prozesses der „Versicherheitlichung“ (Securitization nach Barry Buzan) zu verstehen, gekennzeichnet von einer zivil-militärischen sowie der Verschränkung von innerer und äußerer Sicherheit. In der Binnenstruktur des Militärs erscheine dessen Institutionalisierung als Führungsgrundgebiet in den jeweiligen Generalstäben (Deutschland, Frankreich) bzw. im Kriegsministerium (Vereinigtes Königreich) als Teilaspekt einer allgemeinen Professionalisierung.
Der zweite Teil der Studie – eingeleitet von einer kurzen Darstellung der Affäre Dreyfus 1894 als anschauliches Beispiel dafür, wie ein damals bereits innerhalb der militärischen Führung etablierter Nachrichtendienst in der Lage war, Frankreich in eine veritable Staatskrise zu stürzen – untersucht die oben genannten Rahmenbedingungen für die militärische und sicherheitliche Entwicklung bis 1914 im Detail und konkret vergleichend bezogen auf die drei Akteure. Hinsichtlich der Räume wird auf die Inkongruenz des militärischen und des nachrichtendienstlichen Raumes aufmerksam gemacht und das 1871 eingegliederte Reichsland Elsass-Lothringen, das militärisch für Deutschland nun ein Vorfeld, für Frankreich hingegen ein Ziel darstellte, als wichtigste Kontaktzone und Hotspot früher nachrichtendienstlicher Aktivität benannt. Die Lage gegenüber Frankreich habe für die militärische Planung des Deutschen Reichs oberste Priorität besessen, gegen die Neutralen (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Schweiz) war man offensiv orientiert und mit Russland (1893) und Großbritannien (1907) traten zusätzliche Kontrahenten auf, sodass die kontinental ausgerichtete Macht Deutschland ihren nachrichtendienstlichen Raum schließlich nach zwei Seiten ausrichten musste. Das sowohl kontinental als auch imperial geprägte Frankreich, eine klassische Landmacht, habe hingegen gegen die neutralen Nachbarn kaum offensiv geplant und seinen militärischen und nachrichtendienstlichen Fokus ab etwa 1890 exklusiv gegen Osten, also gegen Deutschland, gerichtet. Großbritannien als globale Seemacht in europäischer Randlage, zu dessen bedrohlichstem Krisenherd sich Irland entwickelt hatte, habe nach Bereinigung seiner außereuropäischen Konfliktherde 1902 die sog. kontinentale Wende vollzogen, die im Land eine Invasionsfurcht, Überlegungen zur Dislozierung von Expeditionsstreitkräften in Frankreich oder Belgien – den Küsten galt dementsprechend auch die nachrichtendienstliche Aufmerksamkeit – und die im Vergleich späte Einrichtung eines Generalstabs nach sich gezogen habe. Hinsichtlich der Betrachtung von Nation, Staat und politischer Kultur würden sich, wie zu erwarten steht, von der Dauer des Bestehens der jeweiligen Gemeinwesen abhängige Gemeinsamkeiten und Unterschiede offenbaren: Einem im Aufbau begriffenen, entwicklungsoffenen, als herausfordernd wahrgenommenen und wirtschaftlich-militärisch kraftvollen Deutschland standen ein gefestigtes bis verfestigtes, ideologisch machtvolles Frankreich und ein von Traditionen und politischem Gemeinsinn bestimmtes, global von seiner imperialen Potenz zehrendes, sich ab 1900 neu orientierendes Großbritannien gegenüber. Der Wandel der Öffentlichkeit, vor allem durch den steigenden Einfluss der Presse, und eine sich zur Angst steigernde Unsicherheit seien überall präsent gewesen: „Angst hatten die Deutschen, Franzosen und Briten […] vor einer sich rasch wandelnden Gegenwart, vor einer damit verbundenen Verschiebung der innenpolitischen Tektonik und vor einem Verlust des weltpolitischen Status. […] Diese Ängste bildeten die Grundlage, auf der sich konspirative Erzählungen konstruieren ließen“ (S. 50f.). Bis 1914 habe sich auch das Militär als Teil der Wissensgesellschaft entwickelt, denn Wissen sei der erste Schritt zum militärischen Handeln gewesen, weshalb das Militär in erheblichem Umfang und in verschiedener Weise an diversen wissenschaftlichen Feldern (unter anderem Medizin, Technik, Naturwissenschaften, Geografie, Fremdsprachen, Geschichtswissenschaft) Anteil genommen habe. „Im Frieden sowie bei der Vorbereitung und Führung von Kriegen musste das europäische Militär nicht nur immer umfangreichere Wissensbestände beherrschen, sondern es musste auch immer stärker solche beherrschen, die nicht genuin militärisch waren. Das entstehende militärische Nachrichtenwesen baute in besonderer Weise auf diese kognitiven Ressourcen auf“: Dieses Wissen konnte sowohl die innere und äußere Sicherheit fördern als auch das Gegenteil anstoßen, denn „aus der ‚Steigerung gesellschaftlicher Komplexität in Verbindung mit der Zunahme von Information und/oder Wissen‘ konnten ja eben auch neue Versicherheitlichungspotenziale erwachsen“ (S. 54). Es sei typisch für das Nachrichtenwesen gewesen, dass es sich sowohl im Rahmen der inneren als auch der äußeren Sicherheitssphäre institutionalisierte. Die Entwicklung militärischer Nachrichtendienste in Europa habe ihren Ausgangspunkt in der französischen Niederlage von 1871, weshalb sich entsprechende Strukturen zuerst in Frankreich und erst später auch in Deutschland und Großbritannien etabliert hätten. Der Verfasser beschreibt dabei drei chronologische Schübe nachrichtendienstlicher Versicherheitlichung (1886 – 1890 mit dem Vorreiter Frankreich und einem nachziehenden Deutschen Reich; 1907 – 1909 mit der planmäßigen Organisation einer zentralen Spionageabwehr in Deutschland und einer security revolution in Großbritannien; 1909 – 1914 mit einer allgemeinen und konsequenten institutionellen Weiterentwicklung), die mit einer nationalen nachrichtendienstlichen Verrechtlichung einhergehen. Bereits in der ersten Phase „bereitete Frankreich mit der Loi pénale réprimant l´éspionage von 1886 einer Verschärfung der Gesetzgebung den Weg, die Briten zogen 1889 mit dem Official Secret Act nach, Deutschland folgte als Schlusslicht 1893 mit dem ‚Gesetz gegen den Verrath militärischer Geheimnisse‘“ (S. 56f.). Bis Kriegsbeginn erfuhren diese Normierungen 1911 in Großbritannien und 1914 im Deutschen Reich verschärfende Novellierungen, bereits 1907 regelte die Haager Landkriegsordnung (Art. 29 – 31) Spionage erstmalig auch auf völkerrechtlicher Ebene. Zu guter Letzt wiesen auch die nationalen Offizierskorps der mit den gemeinsamen militärischen Trends zum Massenheer, zur Professionalisierung und zur Spezialisierung konfrontierten Mächte je eigene spezifische Charakteristika auf. Was die nachrichtendienstlich relevanten Fähigkeiten angeht, sei hier das preußisch-deutsche Offizierskorps wegen der klaren Doktrinbildung, seiner routinierten Stabsarbeit und der Einbindung ziviler Expertise über die Reserveoffiziere in Europa ein Vorbild gewesen, wohingegen man in Frankreich und Großbritannien aufgrund größerer Erfahrung in der kolonialen Kriegsführung unkonventioneller zu agieren vermochte.
Von den Organisationen, in welchen sich die Nachrichtendienste institutionalisierten, handelt der dritte Abschnitt, zunächst von den Kriegsministerien, Generalstäben und den koordinierend wie kontrollierend agierenden, streitkräfteübergreifenden und zivil-militärischen Gremien, sodann von der konkreten Arbeit der Dienste der drei untersuchten Staaten. In Deutschland und Frankreich emanzipierten sich, im Gegensatz zu Großbritannien, die mit der Operationsplanung inklusive nachrichtendienstlicher Agenden befassten Generalstäbe ab etwa 1890 von den traditionsreichen und machtvollen Kriegsministerien. Das Nachrichtenwesen sei also „im deutschen und französischen Fall durchweg Dienstlei[s]ter der Operationsplanung“ gewesen, während es „im britischen Fall das institutionelle Fundament für einen späten Generalstab wurde“. In Frankreich und in Großbritannien ins Leben gerufene, verbindende Gremien fehlten wiederum im Deutschen Reich – und damit die „Praxis in Kollegialität“ (S. 76). Der Vergleich der konkreten praktischen Arbeit beleuchtet für jeden der drei Staaten die Institutionalisierung, organisatorische Einbindung und Entwicklung der jeweiligen nachrichtendienstlichen Elemente in dem bezeichneten Zeitraum, deren Quellen (Attachés mit offiziellem Spionageverbot, offene Quellen wie Pressemeldungen und die militärische Fachpublizistik, Spionageaktivitäten, Fernmeldeaufklärung und Chiffrierwesen, Luftaufklärung), Produkte (Berichte und Periodika mit Wirkung in das Offizierskorps), die Spionageabwehr sowie eventuelle Spezialoperationen. Das deutsche System (Generalstab des Heeres mit erfahrenen Länderabteilungen zur Auswertung, der Sektion IIIb als geheimer Nachrichtendienst ab 1890 und dezentralen etatisierten Nachrichtenoffizieren ab 1906) lasse einen Vorsprung bei der Luftfotografie und Vorteile bei der planmäßigen Diffusion der nachrichtendienstlichen Produkte in die Breite des Offizierskorps erkennen. Der Ertrag eigener Spionage gegen Frankreich und Russland sei aber gering gewesen, die Spionageabwehr kein organisatorischer Teil des Systems, sondern ein Zusammenwirken zwischen dem Generalstab, den Generalkommandos und den Polizeien. Die Dienste der Teilstreitkräfte (Heer, Marine) seien voneinander abgeschottet und die Rolle des militärischen Nachrichtenwesens innerhalb des nationalen Sicherheitsapparates nur bescheiden gewesen. Frankreich (État-major de l’Armée mit dem Deuxième Bureau für das militärische Nachrichtenwesen und Ländersektionen zur Auswertung, Section de statistique bzw. Section de renseignement als geheimer Nachrichtendienst, grenznahe Residenturen ab 1873) habe sein nachrichtendienstliches Schwergewicht klar auf Deutschland ausgerichtet. Die französischen Attachés wurden vom Deuxième Bureau geführt, die französische Fachpublizistik umfasste exklusiv auch Schriften zum militärischen Nachrichtenwesen. In der Spionage sei man besonders erfahren und entschlossen vorgegangen, eine ebenfalls große Fachkompetenz in der Funkaufklärung sei aber durch Ressortrivalitäten (Innenministerium, Außenministerium, Kriegsministerium) konterkariert worden. Der Sektionsleiter des geheimen Nachrichtendienstes habe dem französischen Kriegsminister täglich vorgetragen, womit ein – so in Deutschland und Großbritannien nicht vorhandener – unmittelbarer Zugang zur Politik gegeben gewesen sei. Bei der Spionageabwehr wechselten die Kompetenzen zwischen Polizei und Militär hin und her: 1913 sei schließlich dem Deuxième Bureau die Spionageabwehr im Ausland, der zivilen Sûreté jene im Inneren zugeordnet worden. Mit Spezialoperationen habe man schon seit 1870/71 Erfahrungen gesammelt (franctireurs), ein Spitzelnetz für den Fall der deutschen Besatzung eingerichtet und auch offensiv agiert. Scharfe Brüche, der Primat der Politik und bestenfalls rudimentäre Verbindungen zwischen den Teilstreitkräften kennzeichneten allgemein das französische militärische Nachrichtenwesen. Das quantitativ wie qualitativ abfallende britische Modell (Nachrichtendienst des Kriegsministeriums als Intelligence Branch bzw. Intelligence Division mit durch Zusatzaufgaben belasteten Ländersektionen zur Auswertung, 1905 Direktorat Military Operations mit eingegliedertem Nachrichtendienst, 1909/10 streitkräftegemeinsames Secret Service Bureau für die Spionageabwehr – später MI5 – und den geheimen Nachrichtendienst – später MI6) unterscheidet sich vor allem in seiner komplizierten Organisation deutlich von den beiden kontinentalen Systemen. Eine vorteilhafte Besonderheit zeige sich mit der frühen Einrichtung von Residenturen zu Spionagezwecken im neutralen Ausland, eine andere mit den Erfahrungen aus der kolonialen Kleinkriegsführung, womit hinsichtlich möglicher Spezialoperationen im Fall einer deutschen Invasion eine wertvolle Ressource verfügbar gewesen sei. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen ein Festhalten an der veralteten Telegrafie und als kleinteilig, selbstbezogen und nicht in die Breite des Offizierskorps wirkend beschriebene Produkte der nachrichtendienstlichen Aufklärung. Erfolge in der Spionageabwehr habe man in der Hauptsache nichtmilitärischen Akteuren, wie der Polizei und der Postüberwachung, verdankt.
Im vierten Abschnitt „Operationen“ stellt der Verfasser insgesamt acht recht disparate Skizzen vor, die exemplarisch die große Bandbreite nachrichtendienstlicher Aktivitäten darlegen und darüber hinaus deren rechtliche Implikationen immer wieder andeuten. Am Beispiel der Dekonstruktion der um den Juristen und Polizeibeamten im Dienst Otto von Bismarcks, Wilhelm Stieber, gestrickten Legende, die ihn zum Schöpfer des militärischen Nachrichtenwesens der deutschen Armee und Herrn über ein Heer von Spionen erklärte, wird die Funktion dieser literarisch immer wieder aufgegriffenen und ausgeschmückten konspirativen Erzählung im Kontext der nationalen Verarbeitung der Niederlage von 1871 in Frankreich ersichtlich. Der 1882 in München zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilte Niederländer Hendrik Reeser alias Henry Baron de Graillet steht für die zu jener Zeit aufblühende Kategorie des Spionagebetrugs, die belege, dass die „Kapitalisierung geheimer Information schneller vonstatten ging als die Professionalisierung der Nachrichtendienste“ (S. 136). Ein weiterer Beitrag untersucht die Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärung des deutschen Eisenbahnaufmarsches zwischen 1888 und 1914 durch das Deuxième Bureau des französischen Generalstabs. Die Geschichte vom angeblichen Verrat der deutschen Aufmarschunterlagen („Schlieffen-Plan“) 1904 durch einen als „Rächer“ auftretenden, angeblichen Insider aus dem Großen Generalstab an Frankreich entpuppt sich wiederum, allen Indizien zufolge, als eine im eigenen Interesse lancierte, nachträgliche fragwürdige Konstruktion des französischen Diplomaten und Kriegsschuldforschers Maurice Paléologue. An Wallscourt Hely-Hutchinson Waters, der von 1900 bis 1903 als britischer Militärattaché in Berlin akkreditiert war, demonstriert der Verfasser allgemein das Arbeitsumfeld und die Zugänge, aber auch die begrenzten Möglichkeiten, die sich einem derartigen Amtsträger im Hinblick auf das Generieren fachlich relevanter Informationen eröffneten. 1910 rekognoszierten die britischen Offiziere Vivian Brandon und Bernard Frederic Trench die deutsche Nordseeküste und wurden dabei ergriffen und in einem Prozess vor dem Reichsgericht in Leipzig „wegen Verbrechens gegen das ‚Gesetz gegen den Verrath militärischer Geheimnisse‘“ zu je vier Jahren Festungshaft verurteilt. Zu dem Vorgang merkt Markus Pöhlmann an: Diese „Frieslandreise von 1910 (ist) sehr wohl ein Ausweis der Professionalisierung der britischen Spionage innerhalb des Nachrichtenwesens. […] Als Achillesferse erwies sich auf deutscher Seite die Rechtslage. Weil hier der Versuch der Straftat unpräzise bew[e]hrt war, musste das Urteil relativ milde ausfallen. […] Bei Lichte betrachtet hatte sich das Gesetz von 1893 […] als ein zahnloser Tiger erwiesen und es wäre ein lohnenswertes Bemühen, den Einfluss des Falles auf die Novellierung des Gesetzes von 1914 rechtshistorisch zu erforschen. Mit dem braven Senatspräsidenten Menge trat der preußisch-deutsche Nachtwächterstaat hier also ein letztes Mal in eine rückblickend eigentlich recht liebenswerte Erscheinung“ (S. 182f.). Ein anderer Weg, sich in einem begrenzten Ausmaß ein Urteil über die militärischen Fähigkeiten eines potenziellen Kriegsgegners zu verschaffen, war die beobachtende Teilnahme von Generalstabsoffizieren an dessen Manövern, hier gezeigt anhand der deutschen Beobachtung des britischen Armeemanövers von 1912. Eine letzte Studie beleuchtet das Agieren der drei behandelten Nachrichtendienste in der Julikrise 1914, die zu deren Beginn allesamt „ihre ‚Hausaufgaben‘ weitgehend gemacht“ hätten und denen in deren Verlauf noch „drei Aufgaben zu erledigen (blieben): erstens, mögliche gegnerische Mobilmachungsaktivitäten zu identifizieren; dann, in der Folge, zweitens, den gegnerischen Aufmarsch aufzuklären; und, drittens, in Zusammenarbeit mit den zivilen Stellen Maßnahmen zur Spionageabwehr, zur Zensur und zur allgemeinen Überwachung vorzubereiten“ (S. 194f.). Mit Kriegsbeginn verschlechterte sich die Informationslage für alle Nachrichtendienste insofern deutlich, als dass offene Quellen in den Feindstaaten versiegten, Attachés und Konsulate nicht mehr zur Verfügung standen, Spionageposten in den Feindstaaten aufgegeben werden mussten und sich in der Folge viele einschlägige Aktivitäten in die neutralen Staaten verlagerten.
Markus Pöhlmanns konzise Studie leistet einen profunden Beitrag zum Verständnis der Genese militärischer Nachrichtendienste in Mittel- und Westeuropa im Kontext der politischen, gesellschaftlichen und militärspezifischen Rahmenbedingungen der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Es wird deutlich, dass die Treiber für bestimmte Entwicklungen nicht immer evidenzbasierte, sondern bisweilen irreale, von der Presse verstärkte Bedrohungsszenarien („Spionitis“) waren, die letztendlich in eine Materialisierung der konspirativen Erzählung in Form institutionalisierter Organe der Versicherheitlichung auch im Militär mündeten. Solche stellten und stellen bis heute obligatorische Führungsgrundlagen bereit, ohne die große, moderne und professionelle Armeen nicht erfolgreich zu operieren in der Lage sind. Die Arbeit ist mit einigen Grafiken unterlegt, unter denen vor allem die neun Organigramme im Anlagenteil (jeweils für 1875/78, 1890 und 1914 ein Organigramm für jedes Land) besonderen Wert haben, da sie die institutionelle Einbindung der nachrichtendienstlichen Elemente – sie sind durch Fettdruck besonders hervorgehoben – in ihrer Entwicklung übersichtlich veranschaulichen. Die bisweilen anzutreffenden, störenden Flüchtigkeitsfehler (etwa S. 77: „Geschäftsordnung vom April 1967“ statt richtig „1867“; S. 133: zweimal, darunter in der Überschrift, „1892“ statt richtig: „1882“; S. 183: „Straftat unpräzise bewährt“ statt richtig: „bewehrt“ usw.) hätten durch ein sorgfältigeres Lektorat wohl vermieden werden können.
Kapfenberg Werner Augustinovic